Schöner Streiten Schöner Streiten: Verein aus Halle betreibt Debattieren als Wettkampfsport

Halle (Saale) - Die Debatte ist keine drei Minuten alt, da reicht es Deniz Lü bereits. Er springt auf, sein Stuhl rutscht nach hinten und kratzt über das Parkett. „Aber ist es nicht so, dass man heute schon einen bestimmten Betrag an Sozialleistungen vom Staat bekommt und dann immer noch entscheiden kann, wofür man ihn ausgibt“, fragt er den Redner am Pult empört. Der verteidigt sich und nennt das Wohngeld als Gegenbeispiel. Lü schüttelt den Kopf und setzt sich wieder hin. Die Debatte nimmt Fahrt auf.
In der Auseinandersetzung geht es um das Bedingungslose Grundeinkommen. Eine liberale Idee, bei der jeder Bürger vom Staat pro Monat einen bestimmten Betrag bekommt - nicht zweckgebunden und egal ob er arbeitet oder nicht. Dafür allerdings fielen alle Sozialleistungen weg - und damit viel Bürokratie. Die Regierung will das Grundeinkommen beschließen. 1 500 Euro soll es monatlich für jeden Bürger des Landes geben. Deniz Lü ist dagegen. Er ist Teil der Opposition.
Allerdings hat Lü diese Rolle nicht als Parlamentarier inne. Als er sich empört, sitzt er nicht im Bundes- oder Landtag, sondern im Großen Saal der Paulusgemeinde in Halle. Es ist Montagabend, kurz vor halb neun. Lü, 24 Jahre alt und Jura-Student im neunten Semester, ist Redner bei einer Showdebatte des Vereins Klartext.
Der Debattierclub aus Halle wurde 2005 gegründet und ist einer von zwei Vereinen seiner Art im Land. Der andere ist in Magdeburg beheimatet und an der dortigen Universität angesiedelt. So ist es auch bei Klartext. „Wir sind der Debattierclub der Uni Halle, aber an sich kann jeder bei uns Mitglied werden“, sagt Deniz Lü. Er ist auch Präsident des Clubs, der derzeit 50 Mitglieder hat. Überwiegend Studenten. Die meisten kommen aus dem juristischen Bereich, viele aber auch aus den Geistes- und Naturwissenschaften.
Der Wort-Sport Debattieren stammt aus Großbritannien. Der erste Club wurde dort bereits 1815 an der Cambridge University gegründet. Der angelsächsische Ursprung ist noch heute spürbar. Wie im Unterhaus, dem britischen Parlament, prallen auch beim Debattieren Regierung und Opposition aufeinander. Die Wortgefechte sind zum Teil heftig. Die Form wird allerdings immer gewahrt.
Pro Seite gibt es drei Redner. Es wird abwechselnd sieben Minuten zu einem Thema gesprochen. Ziel ist ein schöner Streit, ein gepflegtes Wort-Geplänkel, bei dem man das Publikum von der eigenen Position überzeugen will. Die muss allerdings nicht deckungsgleich mit der eigenen Meinung sein. Der Clou beim Debattieren ist nämlich, dass die Seite, die man vertritt, zugelost wird. Ob Pro oder Kontra ist Glückssache.
„Eigentlich finde ich, dass das bedingungslose Grundeinkommen eine sympathische Idee ist“, sagt Deniz Lü. Doch bei der Showdebatte muss er dagegen sein. Für den Jura-Student ist das keine ungewohnte Situation. Seit über vier Jahren debattiert er, war schon auf zig Turnieren und Meisterschaften. „Was ich immer wieder bemerke, ist, dass genau dieser Perspektivwechsel mich weiter bringt.“
Um Argumente zu finden, müsse man seine eigenen, vielleicht zu festgefahrenen Ansichten hinterfragen. „Oft fällt mir dabei auf, dass meine Meinung gar nicht so ausgereift war“, sagt Lü. Er entdecke immer neue Aspekte, die er zuvor nicht bedacht habe. Dieser Perspektivwechsel sei für ihn auch etwas, das im Alltag mitunter fehle. „In Diskussionen vermisse ich manchmal das Verständnis für die Gegenseite“, sagt der 24-Jährige.
Respekt vor dem Gegner, diesen ernst nehmen, dessen Meinung anerkennen - das sind für Lü Grundsätze des Debattierens. Bei gesellschaftlichen Dialogen sind sie jedoch oft nicht zu finden. Streiten ist in Deutschland wenig kultiviert. Statt gepflegter Geplänkel gibt es bei Bürgerversammlungen und vor allem in Internet immer häufiger nur plumpe Pöbelei.
Diese Entwicklung beobachtet auch Michael Germann kritisch. Der Jura-Professor der Uni Halle hält vor der Showdebatte eine kurze Einführung zum Debattieren. „Viele Menschen denken: Demokratie ist, wenn geschieht, was ich für richtig halte“, sagt Germann. Doch das sei ein Trugschluss. „Demokratie fordert Kompromisse aus dem offenen und öffentlichen Streit.“ Und für solchen Streit seien Regeln wichtig.
Eine solche Regel beim Debattieren ist, dass jeder seine Zeit bekommt: Sieben Minuten. „In dieser Zeit ist man gezwungen, zuzuhören“, sagt Deniz Lü. Für ihn bedeute die Begrenzung aber zudem, dass er seine Argumente strukturieren und sich gut überlegen müsse, was er eigentlich erzählen wolle. Debattieren sei nämlich nicht nur Rhetorik. „Ich kann so schön reden, wie ich möchte - wenn ich nichts zu sagen habe, dann kann ich nicht überzeugen.“
In der Showdebatte ist er als letzter Redner dran. Mit leicht süffisantem Lächeln tritt er an das Pult und beginnt mit sonorer Stimme, die Gegenseite abzuwatschen. Die Regierung wolle mit ihren 1 500 Euro den Menschen nur ein besseres Gefühl geben, sagt er. Das Geld sei wie Zuckerguss, den man über die eigentlichen Probleme drüber schmiere. Die Debatte, das wird immer wieder deutlich, ist nicht nur Show, sondern auch eine ernste Auseinandersetzung.
Nachdem alle sechs Redner gesprochen haben, meldet sich eine Frau aus dem Publikum zu Wort. „Ich habe bei jedem Redner gedacht: Ja, stimmt“, lobt sie und meint: „Wenn ich heute nicht dagewesen wäre, hätte ich wirklich etwas verpasst.“
Als die Veranstaltung vorüber ist, verschwinden ein paar der Vereinsmitglieder noch in eine nahe gelegene Kneipe. Genau das gehört zum Debattieren nämlich auch dazu: „Egal, wie hart man gestritten hat“, sagt Lü. „Nach der Debatte gibt man sich die Hand und kann bei einem Bier wieder ganz normal miteinander reden.“ (mz)