Gewaltopferambulanz Halle Rechtsmediziner der Uniklinik Halle sind der Gewalt auf der Spur
Halle (Saale) - Manchmal sitzt Carolin Richter als Sachverständige bei Gericht und kann nichts anderes sagen als: „Ich weiß nicht, ob das, was das Opfer berichtet, stimmt.“ Die Rechtsmedizinerin hat sich dann alle Akten, die die Verletzungen des Opfers dokumentieren, angesehen. „Doch noch immer sind die Befunde häufig zu ungenau“, sagt Richter. Da sei dann die Rede von multiplen Prellmarken - also: vielen blauen Flecken. „Doch viele blaue Flecken kann ich bekommen, wenn ich die Treppe runter falle, aber eben auch, wenn mein Mann am Vorabend sauer war und mich geschlagen hat.“
Ungenaue Berichte sind etwas, das Carolin Richter mit ihren Kollegen verhindern will. Die 38-Jährige arbeitet als Fachärztin am Institut für Rechtsmedizin der Uniklinik Halle. Dort verantwortet sie die Gewaltopferambulanz - eine Einrichtung, die selten ist.
Gewaltopferambulanz Halle in steriler Atmosphäre
In Sachsen-Anhalt existiert neben Halle noch eine Zweigstelle in Magdeburg. Bundesweit haben Opfer von Gewalttaten nur 34 Anlaufstellen, bei denen sie kostenfrei ihre Verletzungen dokumentieren lassen können. Dabei erfasste die Polizei in Deutschland im vergangenen Jahr 185.377 Gewaltdelikte. Und vor Gericht kann die Arbeit von Medizinern wie Carolin Richter darüber entscheiden, ob jemandem geglaubt wird oder nicht.
Die Ambulanz in Halle ist ein schmuckloser Raum. Weiße Wände, weiße Schränke. Auf der Untersuchungsliege: ein weißer Bezug. Die sterile Atmosphäre durchbrechen nur ein paar Kuscheltiere, die in einem Regal stehen: Ein Hund, ein Panda und ein blauer Schlumpf mit roter Mütze - für die Kinder, die eine der größten Opfergruppen in der Gewaltambulanz sind.
Ambulanz ist Teil des Opferschutzes
Dass es diese Einrichtung in Halle überhaupt gibt, ist dem Institut für Rechtsmedizin zu verdanken. „Wir sehen die Ambulanz als ein wichtiges Angebot im Sinne des Opferschutzes“, sagt Stefanie Hoyer, eine Kollegin von Carolin Richter. Diese Sichtweise ist keine Selbstverständlichkeit, denn eine staatliche Finanzierung gibt es für die Anlaufstelle nicht.
Für die bloße Dokumentation von Verletzungen zahlt keine Krankenkasse. In Rechnung können die Rechtsmediziner ihre Arbeit aber ohnehin nur stellen, wenn sie von einer Ermittlungsbehörde angefordert wird - oder wenn ein Opfer die Dokumentation seiner Verletzungen vor Gericht selbst verwenden will.
Jedes Jahr werden in Deutschland Tausende Menschen Opfer von Körperverletzungen, Misshandlungen oder sexuellem Missbrauch. Viele der Delikte werden gar nicht angezeigt, etwa weil es sich um Taten in Beziehungen handelt oder die Opfer sich schämen. Bei Partnerschaftsdelikten sind etwa 80 Prozent der Geschädigten weiblich.
Opfer von Gewalt, die ihre Verletzungen dokumentieren lassen wollen, können sich in Sachsen-Anhalt an die Opferambulanz wenden. Die Untersuchung ist kostenlos, eine Anzeige muss nicht erstattet werden. Die Ambulanz ist werktags unter 0345/5571885 (7.30 bis 16 Uhr) und in dringenden Fällen außerhalb dieser Zeiten unter 0345/5570 zu erreichen.
Zu einer Anzeige gezwungen, wird in der Opferambulanz allerdings niemand. „Wir machen hier, was man eine vertrauliche Spurensicherung nennen“, sagt Caroline Richter. Ziel sei es, alle Verletzungen so festzuhalten, dass ein gerichtsfester Befund entsteht. „Diese Dokumentation bewahren wir dann drei Jahre auf.“ Solange kann sie das Opfer abfordern. Und die meisten machen das auch. „Mein Eindruck ist, dass die Zahl nicht abgeforderten Befunde geringer wird“, sagt Richter.
Gewaltopferambulanz Halle untersuchte 315 Menschen im vergangenen Jahr
Im vergangenen Jahr wurden in den Ambulanzen in Halle und Magdeburg 315 Menschen untersucht. Im ersten Halbjahr 2019 waren es bereits 280 Personen. Die Arbeit der Rechtsmediziner folgt einem standardisierten Ablauf. Nach biografischen Fragen beginnt die Untersuchung des Körpers: Rötungen, Schürfungen, Wunden - alles wird in Größe, Form und Anmutung genau dokumentiert und fotografiert.
Bei Opfern sexuellen Missbrauchs kommt zudem ein Untersuchungsset zum Einsatz. Richter nimmt eine weiße Schachtel aus einem Schrank. Deren Inhalt verteilt sie auf dem Tisch: Mehrere Tupfer, ein Kamm für die Schambehaarung und ein atmungsaktiver Beutel für Kleidung, etwa die Unterwäsche. „In einem Plastikbeutel würden uns die DNA-Spuren sprichwörtlich wegschimmeln“, sagt die Ärztin.
Opfer bestimmen, was untersucht werden darf
Bei der Untersuchung dürfen die Opfer bestimmen, was untersucht wird. „Auch wenn wir immer daran interessiert sind, den gesamten Körper in Augenschein zu nehmen“, sagt Stefanie Hoyer. Oft würden den Opfern kleinere Blessuren gar nicht auffallen: Kratzer oder Risse, auf die man nicht einmal ein Pflaster kleben würde.
Für die Rekonstruktion des Tathergangs können die jedoch wichtig werden. „Wenn jemand von einem Schlag ins Gesicht berichtet, kann es sein, dass er anschließend mit dem Rücken gegen etwas gestoßen ist.“ In diesem Fall würde man dann dort Verletzungen entdecken.
In den Wunden können Rechtsmediziner lesen. An der Farbe von blauen Flecken sehen sie, wie alt diese sind. Rot-violett bedeutet frisch, gelb-grüne Flecken sind schon älter. Spricht ein Verletzter davon, geschlagen worden zu sein, dann schauen Ärzte wie Carolin Richter auch an seinen Händen nach Wunden. Gibt es dort Abschürfungen an den Fingern, werden die dokumentiert. Möglicherweise stellt sich später bei einem Prozess die Frage, ob auch der Verletzte zugeschlagen hat. Die Abschürfung, die oft beim Aufeinandertreffen von Faust und Zähnen entstehen, könnten ein Indiz dafür sein.
Medizinerinnen wollen Kollegen sensibilisieren
Außerhalb der Rechtsmedizin wird auf solche Feinheiten selten geachtet. Carolin Richter macht ihren Kollegen deswegen aber keinen Vorwurf: „Hausarztpraxen und Kliniken sind voll mit Patienten - da hat keiner Zeit, sich mit einer aufwendigen Befunddokumentation zu befassen.“
Um trotzdem etwas zu ändern, veranstaltet die Rechtsmedizinerin Schulungen, um Kollegen zu sensibilisieren. „Wenn sie dann ein mögliches Opfer zur Untersuchung in unsere Ambulanz schicken, ist das ja auch schon ein wichtiger Schritt“, sagt Richter.
Fast täglich mit Gewaltopfern zu tun zu haben, berühre sie, meint Richter. Zumal der Anteil der Kinder, die etwa von ihren Eltern misshandelt werden, schon groß sei. „Wenn ich so abgebrüht wäre, dass mir ein misshandeltes Kind nichts mehr ausmacht, dann würde ich den Job wechseln“, sagt sie. „Das bedeutet nicht, dass ich mit jedem mitleide - aber es ist mir eben auch nicht egal.“
Mit ihrem Job, sagt Richter, können sie etwas ändern. Gerade bei Kindern sei das so. „Mein Befund und die Einschätzung, dass ich davon ausgehe, dass es sich um eine Misshandlung handelt, setzt einen Prozess in Bewegung.“ Dann werde der Schutz des Kindes in die Wege geleitet. „Mit meiner Beurteilung ändere ich also an der Situation des Kindes etwas“, sagt Richter. „Und deswegen kann ich diese Arbeit gut machen.“ (mz)