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Punkthochhaus Am Bruchsee Punkthochhaus Am Bruchsee: Willkommen im 20-Etagen-Dorf

Von Anne Schneemelcher 01.12.2015, 11:52
Immer noch begehrt wie zu DDR-Zeiten: Die Wohnungen im Punkthochhaus, welche von der GWG vermietet werden, stehen nicht lange leer.
Immer noch begehrt wie zu DDR-Zeiten: Die Wohnungen im Punkthochhaus, welche von der GWG vermietet werden, stehen nicht lange leer. silvio kison Lizenz

Halle (Saale) - Zu DDR-Zeiten waren die Wohnungen in Halle-Neustadt begehrt. Tür an Tür lebten Professoren, Generaldirektoren und Chemie-Arbeiter in der Musterstadt im Westen von Halle. Getreu der sozialistischen Philosophie des DDR-Staates wohnten alle unter gleichen Bedingungen. Denn in der Stadt vom Reißbrett sollte es keine High-Society-Viertel geben. Von außen wirken alle Betonblöcken bis heute gleich - keiner ist luxuriöser ausgestattet, keine Wohnung sieht extravaganter oder freizügiger aus. Zwischen 1967 bis 1989 schoss ein Betonblock nach dem anderen in den Himmel - für 90 000 Menschen sollte die neue Stadt ausreichen.

Jahrelang glich sie deshalb einer Großbaustelle. Heute leben keine 90 000 Menschen mehr in Neustadt. Nach der Wende veränderten sich die Ansprüche: Häuser wurden altersgerecht saniert und zum Teil abgerissen. Etwa 45 000 Neustädter nennen die Musterstadt aus DDR-Zeiten ihr Zuhause. Doch der einst so bevorzugte Ort mit komfortablen Wohnungen liegt heute in einem Stadtteil von Halle, der polarisiert. Nicht zuletzt auch wegen der niedrigen Mieten und dem hohen Anteil an Hartz-IV-Empfängern sehen einige Hallenser Neustadt als sozialen Brennpunkt.

Ist das Musterstadt-Experiment „Halle-Neustadt“ gelungen oder gescheitert? Der Charme der Platte ist für viele verflogen, obwohl es doch gut klingt, Nachbarn auf bis zu 20 Etagen zu haben. Die Betonblöcke haben ein schlechtes Image, obwohl viele Neustädter ihrem Stadtteil treu blieben. Denn sie sind eng mit ihrer Nachbarschaft, „ihrer Kaufhalle“ und ihrer Hausnummer verbunden.

Ein Streifzug der MZ durch das Punkthochhaus Am Bruchsee zeigt, wie bunt das Leben in der Platte ist. Der Nachbar ist hier kein Unbekannter - man kennt sich, trifft sich am Briefkasten und schwatzt im Fahrstuhl. Häuser machen Leute - und in dem 22-Geschosser mit 120 Wohnungen auf 20 Etagen leben Neustädter, die keine Lust auf Einfamilienhaus mit Garten haben.

Erdgeschoss: Der Hausherr von der Pforte

An ihm und seinen Kollegen kommt keiner vorbei: Seit fast vier Jahren hütet Hauswart Ingo Mrozinski die Eingangspforte. Bei 120 verschiedenen Miet-Parteien kann er zwar nicht behaupten, jeden Bewohner zu kennen, weiß jedoch, wer er ist. Die einen bleiben auf ein Schwätzchen stehen, wenn sie zum Briefkasten gehen - die anderen plaudern mit ihm übers Wetter, wenn der Fahrstuhl mal wieder auf sich warten lässt. Haarige Vierbeiner machen Sitz vor der Pforte und warten auf ihr Leckerli. Und wenn es handwerklich etwas zu beheben gibt, auch dann landet man am Ende bei dem freundlichen Pförtner.

Mit dem Aufzug geht es vier Etagen höher zu Helgard Klose, die Spieletesterin. Bitte weiterklicken!

4. Etage: Die Spieletesterin

Egal wohin die Augen schweifen: Spiele über Spiele türmen sich in der Wohnung von Helgard Klose. „Ich liebe Gesellschaftsspiele“, sagt sie und zeigt stolz, was für Schätze in den Schränken lagern. Allein 78 verschiedene Monopoly nennt die Neustädterin ihr eigen. „Viele sind unverkäuflich und nicht im Handel erhältlich“, sagt die Deutsch-Lehrerin stolz. Vor sechs Jahren wurde sie von Schmidt-Spiele zum offiziellen Tester befördert.

Ein Traum wurde damit für die Mieterin aus dem vierten Stock wahr. Mit ihrer Leidenschaft für Gesellschaftsspiele hat Helgard Klose auch schon die halbe Nachbarschaft angesteckt. Alle zwei Wochen kommen Freunde aus dem Haus vorbei. Mindestens zehn Mieter plus ihre Familie würfeln, knobeln und raten dann im vierten Stock. „Dann wird in jedem Zimmer hier gespielt“, sagt die Mutter von insgesamt sechs Kindern. Drei davon leben noch Zuhause - auf 120 Quadratmetern inmitten aller nur denkbaren Siedler-Erweiterungen. Hinzu kommen noch vier Katzen, die bei der tierlieben Spiele-Testerin ein gutes Zuhause gefunden haben.

Eine, die fast blinde Angelina Jolie, hat Helgard Klose sogar in einer Mülltonne vorm Haus gefunden und gerettet. Das sei selbstverständlich gewesen. Wer das Tier ausgesetzt haben könnte, konnte trotz Bekanntschaften im ganzen Haus noch nicht geklärt werden. Und das, obwohl die Mieterin eigentlich alle kennt. Denn Nachbarschaftspflege gehört zum Leben im Block, zum Leben in Neustadt. Ein Umzug in eine andere Ecke von Halle ist für sie deshalb undenkbar. „Aus Neustadt bringt mich nichts weg.“

Einsteigen bitte, auf geht's zu den Ordnungshütern und den Exoten in die 9. Etage. Bitte weiterklicken!

9. Etage: Die Ordnungshüter

Früher war alles besser! Zumindest ging es da anders im Haus zu, meint Frank Schmidt. Zusammen mit Ehefrau Petra ist er 1988 aus der DDR ausgebürgert - kam aber nach der Wende wieder zurück in seine Heimat Halle. Doch so schön, wie das Leben in Neustadt zu DDR-Zeiten war, ist es nicht mehr. Außer auf der Etage von Ehepaar Schmidt: „Ich passe auf, dass hier keiner seine Bierflaschen stehen lässt, oder in den Fahrstuhl spuckt“, sagt der 66-Jährige. Einer müsse ja ein Auge darauf haben. Und die meisten nehmen ihm die Ermahnungen weniger krumm.

Neben Ordnung hat der Rentner aber noch eine andere große Leidenschaft: Kronkorken und Bier-Etiketten. Hunderte von ihnen bewahrt er in Sammelordnern auf - aus 148 verschiedenen Ländern und Inseln. Der Clou: Das Ehepaar trinkt keinen Alkohol. „Unser Sohn muss immer mit Freunden zu Besuch kommen und trinken“, sagt die Ehefrau.

Die Exoten

In der Wohnung von Familie Luge duftet es nach Mittagessen. Doch Zeit, das Essen zu genießen haben sie nicht. Sohn Eric kam gerade aus der Schule, Mutti Helena von der Arbeit. Nach dem Mittag muss Eric zum Logopäden und Papa Frank ins Bett - die Nachtschicht ruft. „Wir haben wenig Zeit“, erzählt das Familienoberhaupt; auch nicht, um die Nachbarn kennenzulernen.

Familie Luge ist vor sieben Jahren eingezogen. Sie zählen zu den Exoten im Punkthochhaus, denn laut Mama Helena gibt es wenig Familien mit Kind, die hier wohnen. Doch daran habe sie sich gewöhnt. Nur nicht an die Höhe. „Ich habe eigentlich Höhenangst. Aber mein Mann liebt den Ausblick aus der neunten Etage.“

Der Ausblick aus der 18. Etage ist noch viel schöner. Deshalb statten wir Helga Thiede noch einen Besuch ab. Bitte weiterklicken!

18.Etage: Die Treue

Sie gehört zu den Mietern der ersten Stunde: Helga Thiede lebt seit mehr als 30 Jahren in dem Punkthochhaus „Am Bruchsee“. Zusammen mit ihrem Mann zog die heute 68-jährige Rentnerin direkt nach der Fertigstellung 1979 ein. Die Familie hatte sich eine großzügige und helle Dreizimmerwohnung ganz oben im 18. Stock ausgeguckt. „Wir brauchten mehr Platz - und wollten den Balkon“, erinnert sie sich. Bis dahin lebte die Familie in einem nahe gelegenen zehngeschossigem Ypsilon-Bau. Doch der kam gegen die zwei Balkone im neuen Haus nicht an. Von dem einen reicht der Blick bis nach Buna, wo einst viele Neustädter im Chemie-Kombinat arbeiteten. Von dem anderen Balkon hat Helga Thiede die letzten 36 Jahre den Auf- und Rückbau ihres Stadtteils verfolgen können. Viel habe sich verändert - nicht nur aus architektonischer Sicht.

Damals, zu DDR-Zeiten, als Helga Thiede noch im Chemie-Kombinat in Leuna gearbeitet hat, war das Leben in der „Platte“ anders als heute: „Wir haben Subotnik vor der Tür gemacht, hatten Parkplätze ohne Ende und es gab ein Kino - dort wo jetzt ein Einkaufszentrum steht.“ Die Gemeinschaft im Haus war fest miteinander verbunden: Haus- und Grillfeste gehörten zum Alltag. Wie auch noch heute, kannte man seine Nachbarn. „Im Block wohnte der Bezirksstaatsanwalt neben dem Schulrat Tür an Tür“, erzählt die Rentnerin. „Unser Haus war bei vielen beliebt.“ Doch von der damaligen DDR-Prominenz ist nicht mehr viel übrig. Lediglich ein Name am Klingelschild des Hauses erinnert noch an die alte Garde: Liane Lang. Die ehemalige SED-Politikerin, die von 1970 bis 1990 Oberbürgermeisterin von Halle-Neustadt war, lebt noch immer im Haus. Doch heute wird weniger zusammen gegrillt und gefeiert. Es gibt mehr Ein- und Auszüge, sagt die 68-Jährige. Dennoch habe sie natürlich ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis zu denjenigen, die auf ihrer Etage wohnen. (mz)

Zu Besuch im Punkthochhaus am Bruchsee 6.
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Hauswart Ingo Mrozinski hütet seit vier Jahren die Pforten des Hochhauses
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Frau Klose ist vor 15 Jahren mit zahlreichen Gesellschaftsspielen eingezogen.
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Aus der Mülltonne gerettet: Katze Angelina Jolie lebt nun bei Frauchen Helgard Klose.
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Familie Schmidt wohnt seit 2006 im Haus und hat ein Auge auf die Nachbarn - und auf Kronkorken.
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Familie Luge ist vor sieben Jahren eingezogen, als Sohn Eric auf die Welt kam.
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Frau Thiede hat ihre Wohnung im 18. Stock direkt nach der Fertigstellung 1979 bezogen.
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