Operation "Spurensuche" Operation "Spurensuche": Das Rätsel der mysteriösen Stasi-Fotos im Halle-Archiv

Halle (Saale) - Eine Frau mit einem kleinen Kind in kurzen Hosen mit Hosenträgern. Sie drehen dem Betrachter den Rücken zu und blicken auf ein schlossartiges Gebäude im Hintergrund. Eine halbzerstörte Fabrik, Männer mit Schutzhelmen auf dem Kopf. Die Belegschaft eines Bergwerks vor einem Förderturm.
Die beschriebenen Fotos, alle schwarz-weiß, lagern im Archiv der Stasi-Unterlagenbehörde in Halle. Wer die Menschen auf den Bildern sind, wer sie wo, wann und warum aufgenommen hat - all das ist unklar. Sind die Bilder bei Observationen des DDR-Geheimdienstes entstanden?
Archivare suchen nach Hinweisen zu rätselhaften Stasi-Fotos
Sind es Privatfotos, die auf welchen Wegen auch immer in die Hände der Stasi gelangt sind? Niemand weiß es. Für die Archivare ist das ein Problem. Ohne die Zuordnung zu einem Ereignis, einem Ort, einem Zeitpunkt sind die Bilder wertlos für die Forschung und die Aufarbeitung der DDR-Geschichte.
Die Spione der Staatssicherheit haben nicht nur Unmengen an Unterlagen angehäuft über die Menschen, die sie bespitzelt haben. Sondern auch einen Berg an Fotos hinterlassen. Allein in der Außenstelle Halle der Stasi-Unterlagenbehörde lagern 27.000 Positive und 77.000 Negative.
Dazu unzählige Foto-Akten, in denen der Geheimdienst etwa Durchsuchungen von Wohnungen dokumentiert hat. Manche Bilder fanden sich in Unterlagen. Andere standen offenbar kurz vor der Vernichtung, als die DDR unterging und die Stasi hektisch versuchte, Spuren zu verwischen.
Fotos und leeren Aktenordnern Anfang der 1990er Jahre in Garage in Halle-Neustadt entdeckt
Ulrike Vogel stellt einen Umzugskarton auf den Tisch. Er ist voll mit Negativstreifen, nicht etwa mit Klarsichthüllen geschützt und säuberlich gestapelt, sondern wild durcheinander, gerollt, geknickt, ineinander verschachtelt. Allein 34.000 Negative fanden die Archivarin und ihre Kollegen auf diese Weise in mehrere Kartons gestopft, als eine Art Wurmfortsatz eines Aktenbestandes.
Schon Anfang der 1990er Jahre war ein ungeordneter Haufen von Fotos und leeren Aktenordnern in einer Garage in Halle-Neustadt entdeckt worden, unweit der ehemaligen Stasi-Zentrale. Vermutlich hatten die Spitzel auch dieses Material nicht mehr rechtzeitig vernichten können, bevor ihr Arbeitgeber aufgelöst wurde.
Den allergrößten Teil der mehr als 100.000 Bilddokumente „haben wir mittlerweile zuordnen können“, sagt Archivleiterin Angela Friedenberger. Doch bei rund 800 Fotos aus dem Archiv sind die fünf W-Fragen - wer? was? wo? wann? warum? - immer noch nicht beantwortet.
Daher startet die Stasi-Unterlagenbehörde in Halle jetzt eine Art Fahndungsaufruf: Wer weiß etwas zu diesen Motiven? Die Bilder - exakt 767 - werden in der halleschen Museumsnacht am 11. Mai in der Behörde gezeigt - Industrieanlagen, Straßen- und Alltagsszenen. „Spurensuche“ heißt das Projekt.
Besucher können Fotos zur Museumsnacht in Halle identifizieren
Die Idee: Besucher können die Fotos identifizieren, einen Ort, ein Ereignis, ein Datum. „Vielleicht erkennt jemand seinen alten Betrieb“, sagt Archivarin Vogel. Hinweise können auf ausliegenden Zetteln notiert und in bereitstehende runde Sammelboxen geworfen werden.
Auf Flyern sollen die Besucher auch folgenden Hinweis lesen können: „Wenn Sie Bilder erkennen, die Ihnen von der Stasi entwendet wurden, wenden Sie sich bitte an uns.“ Es sei keineswegs ausgemacht, sagt Behördenleiterin Marit Krätzer, dass alle Fotos von Stasi-Spitzeln gemacht wurden. Mitunter seien private Bilder schlicht gestohlen worden, etwa wenn Wohnungen gefilzt wurden.
Die „Spurensuche“ soll dabei helfen, doch noch das eine oder andere Bild zuordnen und damit archivieren zu können. „Archivierung ist kein Selbstzweck“, sagt Krätzer. „Aber nur wenn wir Informationen zu einem Bild haben, kann es für Recherchen genutzt werden.“ Oder lasse sich zum Beispiel jemandem zuordnen, den die Stasi bespitzelt hat und über den sie eine Akte angelegt hat.
Das Interesse an den Hinterlassenschaften des DDR-Geheimdienstes ist auch fast 30 Jahre nach der friedlichen Revolution 1989 hoch, auch wenn die Zahl der Anträge auf Akteneinsicht zurückgeht. Die Außenstelle Halle der Stasi-Unterlagenbehörde registrierte im vorigen Jahr 2.414 derartige Anträge, knapp 400 weniger als im Vorjahr.
Noch immer großes Interesse an Stasi-Akten
Doch schon im laufenden Jahr ist die Tendenz steigend: Bis Ende März beantragten 607 Menschen Einsicht in ihre Stasi-Akte, gegenüber 478 im entsprechenden Vorjahreszeitraum. Eine mögliche Erklärung: Der bevorstehende 30. Jahrestag des Mauerfalls und der friedlichen Revolution lässt das Interesse wieder steigen.
Das zeigt sich auch an einem Dienstagvormittag im Foyer der Außenstelle in Halle-Neustadt: Kurz vor 10 Uhr, ein Dutzend Menschen drängen sich in dem kleinen Raum. Gleich beginnt die Seniorenführung. Im Anschluss können Anträge auf Akteneinsicht gestellt werden. Das Angebot richtet sich speziell an jene, die vor einigen Jahrzehnten möglicherweise selbst noch Erfahrungen mit der Stasi gemacht haben.
Viele Ältere wollten erst jetzt ihre Akten sehen, sagt Außenstellenleiterin Krätzer. „Sie sagen, jetzt bin ich pensioniert und kann das angehen. Vorher hat mir der Alltag keine Zeit gelassen.“ Neben der Großeltern-Generation wachse aber auch das Interesse bei Kindern und Enkeln. „Sie bringen oft Geschichten von zu Hause mit, denen sie nachgehen wollen.“
Ein Antragsteller bekomme in der Regel alles zu sehen, was die Stasi über ihn gesammelt habe
„Wer heute kommt, findet eine andere Aktenlage vor als noch vor zehn oder gar 20 Jahren“, sagt Krätzer. Das heißt, dass die Bestände mittlerweile besser erschlossen sind. In der Behörde sprechen sie davon, dass die personenbezogenen Unterlagen „zu 100 Prozent zugriffsfähig“ seien. Krätzer erläutert, was das bedeutet: Ein Antragsteller bekomme in der Regel alles zu sehen, was die Stasi über ihn gesammelt habe. Was das konkret heißt, hängt allerdings vom Einzelfall ab. Manche Akten sind nur noch in Fragmenten vorhanden, andere wurden in den Wirren der Revolution sogar komplett vernichtet.
Dank des Fortschritts bei der Erschließung der Unterlagen können sich die Archivare nun stärker anderen Aufgaben widmen, etwa der Aufarbeitung des Fotobestandes. Wie lange die Arbeit in der jetzigen Form und am jetzigen Ort fortgesetzt werden kann, ist jedoch ungewiss.
Erst im März hatten der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, und der Chef des Bundesarchivs, Michael Hollmann, in Berlin ein Konzept vorgestellt, wonach die Akten künftig ins Bundesarchiv überführt werden sollen. Demnach soll es in jedem ostdeutschen Bundesland nur noch einen Archivstandort geben. Bisher hat die Behörde zwölf Außenstellen. Für Sachsen-Anhalt bedeutet das: Magdeburg oder Halle würden geschlossen. Wer das Rennen macht? Noch ist alles offen.
Ungeachtet der Standortdebatte geht die Arbeit vorerst weiter wie bisher. In Halle haben Auszubildende in den vergangenen Wochen hunderte Negative gescannt, um vorzeigbare Fotos für das Projekt „Spurensuche“ zu gewinnen. Während sie in den Fluren der Behörde die letzten Fotowände gestalten, setzt sich im Foyer die Seniorenführung in Bewegung. „Wir wollen Dienstleister sein“, sagt Behördenchefin Krätzer.
Die größte Stasi-Dienststelle der DDR
Die Außenstelle Halle der Stasi-Unterlagenbehörde ist für die Hinterlassenschaften des Geheimdienstes im ehemaligen DDR-Bezirk Halle zuständig. Im Archiv lagern daher nicht nur Unterlagen, Fotos und Tondokumente aus Halle, sondern auch aus den umliegenden Landkreisen. Regelmäßig werden Führungen angeboten. Die Außenstelle sitzt in einem Gebäude in Halle-Neustadt, direkt neben der damaligen Stasi-Bezirksverwaltung, die mittlerweile leer steht.
Die Stasi-Bezirksverwaltung in Halle war, gemessen an der Zahl der Dienststellen, die größte in der DDR. Neben der Zentrale in Halle-Neustadt gab es 22 Kreisdienststellen. Das heißt, die Staatssicherheit hatte in jedem der 22 Landkreise im damaligen DDR-Bezirk Halle eine Außenstelle. Dazu kamen drei sogenannte Objektdienststellen in den Chemiebetrieben in Buna, Leuna und Bitterfeld. „Das Chemiedreieck war für die Stasi besonders interessant“, sagt Marit Krätzer, Leiterin der halleschen Außenstelle der Stasi-Unterlagenbehörde.
Hinter dem Hauptgebäude der Bezirksverwaltung verbarg sich zu DDR-Zeiten eine abgeschottete „Stadt in der Stadt“ - mit Ärzten, Friseur, Sauna und Sporthalle. Kurze Wege zum Wohle der Mitarbeiter, die man so auch gleich unter Kontrolle hatte.
Während der Museumsnacht am 11. Mai können auch Anträge auf Akteneinsicht gestellt werden. Interessenten sollten ein gültiges Personaldokument mitbringen.
Hinweise zu den Bildern aus dem Stasi-Archiv bitte an die Stasi-Unterlagenbehörde:[email protected]
(mz)

