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Neues Literaturhaus in Halle Neues Literaturhaus in Halle (Saale): Hier macht der Chef noch die Musik!

Von Christian Eger 05.03.2018, 08:05
Mann am E-Klavier: Alexander Suckel, Leiter des Literaturhauses
Mann am E-Klavier: Alexander Suckel, Leiter des Literaturhauses Andreas Stedtler

Halle (Saale) - Hier spielt der Chef noch selbst. Sollte das Literaturhaus Halle nach einem Alleinstellungsmerkmal suchen, das es heraushebt aus den inzwischen rund 20 Lesehäusern in Deutschland, dann ist es das: Alexander Suckel, Leiter des jüngsten Literaturhauses, sorgt persönlich für den schönen Ton. Der Musikwissenschaftler ist in gleichem Maße Schöngeist wie Entertainer.

Schwarzer Anzug, schwarzes Hemd: So sitzt der 48-Jährige am Freitagabend am E-Piano, um als Mitglied des Trios „Preliminary Injunction“ den Klangteppich auszurollen, auf dem rund 200 Gäste - auf Klappstühlen dicht platziert - im Erdgeschoss des vormaligen Kunstforums der Sparkasse auf die Eröffnung des Literaturhauses Halle warten. Musikalisch gelingt das so gut, dass sich sofort der Gedanke einstellt, dass es für den Fall, dass es mit der Literatur einmal nicht so laufen sollte, mit Musik immer geht. Das Literaturhaus als singendes klingendes Häuschen.

So viel Lässigkeit lässt den Oberbürgermeister die Rede-Routine vergessen. Bernd Wiegand, der das Literaturhaus-Projekt mit zupackender Sympathie verfolgte, geht aus seinem Eröffnungsvortrag („man kann nicht nicht kommunizieren“) unangekündigt in eine Performance über - beiläufig unterlegt von den Klängen des Suckel-Trios.

Neues Literaturhaus in Halle (Saale): Sprechgesang vom OB 

Wiegand trägt einen Sprechgesang von Nora Gomringer vor mit dem Titel: „Ich werde jetzt etwas mit der Sprache machen“. Nicht jedem im Saal ist klar, was los ist. Der Stadtchef spricht schneller, rhythmischer, nach vorne treibend: „Auch wenn sie nicht staunen wollen, weil abgeklärt und aufgeklärt / und alles / So wird es doch ganz erstaunlich und unerwartet, ja / unvorhersehbar sein.“

In der Tat: Wiegand wagt Kunst. Dass er das tut, nimmt für ihn ein an diesem Abend. Auch dass ihn der starke Applaus, den er einholt, offenbar mehr irritiert als erfreut. Der Stadtrats-Chef Hendrik Lange, der 2019 als linker Gemeinschaftskandidat von Linken, Sozialdemokraten und Grünen gegen den parteilosen Performer ins Rennen um den Oberbürgermeisterposten gehen soll, konnte von seinem Sitzplatz in der ersten Reihe aus prüfen, ob das, was in Halle ein Stadtchef zu leisten bereit ist, seine Sache ist.

Neues Literaturhaus in Halle (Saale): Kleiner Bundestag zu Gast

Unübersehbar breit war die Politik vertreten. Sozusagen der kleine Bundestag saß in der zweiten und dritten Reihe: die halleschen Abgeordneten Petra Sitte (Linke), Karamba Diaby (SPD) und Christoph Bernstiel (CDU). Wie jedem Anfang wohnt auch einer Literaturhaus-Eröffnung ein Zauber inne - und dass ein Zauberer dringend gesucht wird, das verbindet die hallesche mit der deutschen Innenpolitik. Allein Kulturminister Rainer Robra treiben tiefere Fragen um.

Im Blick auf die angekündigte Veranstaltung mit dem Paläogenetiker Svante Päabo überraschte der CDU-Mann mit dem Geständnis, dass ihn von Kindheit an der Neandertaler beschäftige, nämlich der Umstand, dass dieser mit dem modernen Menschen nebeneinander her gelebt habe, ohne sich gemeinsam fortzupflanzen. Eine Mutmaßung, die Päabo am nächsten Tag korrigieren wird.

Lasst es leuchten im neuen Literaturhaus in Halle!

Aber das erst nach all den doch eher kurzen und launigen Reden von Thomas Wohlfahrt, Chef des Berliner Hauses der Poesie, der Manfred Krug zitiert („Nur wer die Welt anschaut, kann eine Weltanschauung haben“), von Ralf Meyer, Dichter, Theatermann und erster Vorsitzender des Literaturhaus-Vereins, der aus Goethes „Vermächtnis“ vorträgt („Das Ewige regt sich fort in allen“), André Schinkel, Mitglied der Akademie der Künste Sachsen-Anhalts, der gegen die Politik das anarchische Moment der Kunst betont - und Alexander Suckel, der auf „Vielfalt“ und „Freiheit“ setzt.

Dass Eugen Gomringers Gedicht „avenidas“ ein Transparent der Lesebühne ziert, ist ein Bekenntnis. Das Haus gemeinsam „zum Leuchten“ zu bringen, ist Suckels Wunsch.

Halle ist ein Stück städtischer geworden

Bis 1.30 Uhr am Sonnabendmorgen wogt das Geschehen in den hohen, weiten Räumen des Bank- und Wohnhauses aus der Jahrhundertwende, in dessen Erd- und Obergeschoss Künstler der sachsen-anhaltischen Akademie unter dem Titel „Extra 01“ neue Arbeiten zeigen. Ausgeschenkt werden Tannenzäpfle-Bier und Wein von der Handlung Thomas Mann (die heißt tatsächlich so).

Sofort am nächsten Morgen der Eindruck: Halle ist mit dem Literaturhaus um ein, zwei Temperaturpunkte städtischer geworden. Von der Publikums-Öffnung des Hauses an sind die Veranstaltungen knallvoll. Die hallesche Nachricht: Die Buchmesse in Leipzig kann sich Zeit lassen.

Eindrücklich  - und der erste von einer Serie von ganz und gar professionellen Literaturhaus-Momenten! - die Lesung der fünf Nominierten für den Belletristik-Preis der Buchmesse. Anregend Svante Päabo, nach dessen Erklärungen man weiß, dass die Gene jedes heute lebenden Menschen zwei bis vier Prozent Neandertaler-Anteile aufweisen, womit klar ist, dass man sich einst sehr nahe gekommen sein muss.

Sonnabendlich entspannt die Lesung von Judith Hermann, die im Gespräch bekennt, dass sie einmal die Idee umgetrieben habe, nach Halle zu ziehen, weil diese Stadt sich etwas bewahrt habe, das Berlin nicht mehr hätte. Auch wenn es dann doch und endgültig anders kam: Für sie, sagt die Autorin, bleibe Halle „eine Stadt, in der ich hätte leben wollen.“

Nun auch mit einem Literaturhaus. Fünf Jahre scheinen sicher. So lange währt der Mietvertrag mit der Sparkasse. Dessen Vorstand, Jürgen Fox, erfreute die Eröffnungsgäste mit einem Seitenhieb gegen die notorisch defizitären Bühnen Halle: „Sagen Sie nicht eines Tages, wir haben 1,4 Millionen Euro versenkt. Das passiert in anderen Bereichen.“ (mz)

Für den Preis der Buchmesse nominiert: Isabel Fargo Cole liest aus ihrem Roman „Die grüne Grenze“, rechts Moderatorin Katrin Schumacher
Für den Preis der Buchmesse nominiert: Isabel Fargo Cole liest aus ihrem Roman „Die grüne Grenze“, rechts Moderatorin Katrin Schumacher
Steffen Hendel