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Hirn-OP ohne Narkose Hirn-OP ohne Narkose: Hilfe für Menschen mit besonderen Tumoren im Kopf

Von Bärbel Böttcher 10.04.2018, 10:00
Der Neurochirurg Dr. Julian Prell (links) und die Anästhesistin Dr. Franziska Papst sprechen mit dem Patienten Dirk Rau.  
Der Neurochirurg Dr. Julian Prell (links) und die Anästhesistin Dr. Franziska Papst sprechen mit dem Patienten Dirk Rau.   Andreas Stedtler

Halle (Saale) - Bei diesen Hirntumor gibt es keine Warnsignale. Keine Kopfschmerzen, kein Schwindelgefühl, kein Unwohlsein. Die Krankheit trifft Dirk Rau Ende November des vergangenen Jahres wie der Blitz aus heiterem Himmel: „Ich bin auf der Arbeit einfach umgefallen“, erzählt er. „Eine Viertelstunde vor Feierabend.“

Der Wittenberger Orthopädie-Techniker, der Beinprothesen fertigt, mag gar nicht daran denken, was hätte passieren können, wenn ihm das während der Heimfahrt im Auto passiert wäre.

„Herr Rau hat aus völligem Wohlbefinden heraus einen epileptischen Anfall erlitten“, erklärt Dr. Julian Prell, Leitender Oberarzt der Universitätsklinik und Poliklinik für Neurochirurgie in Halle, wohin der Patient mit dem Rettungshubschrauber geflogen wird. Das sei für die Art des Tumors, die die Ärzte letztlich bei dem Patienten diagnostizieren, ein typisches Krankheitszeichen.

Keine Vollnarkose bei Hirn-OP

Klar ist, die Anfälle können sich wiederholen, durch das weitere Wachstum des Tumors kann Hirngewebe zerstört werden. Also muss er entfernt werden. Was die Ärzte zögern lässt, ist seine Lage. „Der Tumor befand sich in einer Hirnregion, die nicht nur für die Sprache elementar wichtig ist, sondern auch für das Lesen, das Schreiben, das Rechnen, die Unterscheidung zwischen rechts und links sowie für die Planung von Handlungen“, betont Prell.

Laut Lehrbuch verbiete sich eine Operation in dieser Region, weil die Gefahr groß ist, dass es zu Verletzungen kommt, die diese Funktionen beeinträchtigen. Ja sogar eine Tumorbiopsie, bei der lediglich eine kleine Menge Gewebe zum Zwecke der Untersuchung entnommen wird, gelte bereits als Hochrisiko-Eingriff.

Was also tun? Sollten sich die Mediziner damit begnügen, nach der vorsichtigen Biopsie eine Chemo- oder Strahlentherapie einzusetzen? „Uns war schon klar, dass wir damit ein viel schlechteres Ergebnis erzielen können als bei einer Entfernung des Tumors“, sagt der Neurochirurg.

Also doch die Operation? Dem Lehrbuch zum Trotz? „Ja, allerdings nicht unter Vollnarkose“, betont Prell. „Die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient danach mit schweren Defiziten aufwacht, war extrem hoch.“ Deshalb entscheiden sich die Ärzte für eine äußerst selten angewandte Methode: die Operation im wachen Zustand - also ohne Narkose am offenen Gehirn, das ja schmerzfrei ist.

Dr. Julian Prell: „Für solche Operationen gibt es keine Standard-Vorgehensweise“

„Solche Eingriffe werden heute in wenigen Kliniken von hochspezialisierten Teams vor allem bei Patienten mit Tumoren vorgenommen, die in der klassischen Sprachregion liegen, also im Bereich des Stirn- und Schläfenlappens links“, erklärt Prell. Die Gehirnoberfläche des wachen Patienten werde dabei systematisch Punkt für Punkt elektrisch stimuliert. Durch seine Reaktion auf die elektrischen Impulse werde eine individuelle „Landkarte“ der Sprache entwickelt. Es könne dann schonend gewissermaßen um die Sprache herum operiert werden.

„Bei Dirk Rau hätte dies allein aber nicht genügt, da neben der Sprache eine Vielzahl anderer Funktionen gefährdet war“, erzählt Prell. Alle diese Funktionen seien während der Operation systematisch kartiert und getestet worden. „Für solche Operationen gibt es keine Standard-Vorgehensweise. Sie müssen präzise auf den jeweiligen Patienten zugeschnitten werden“, betont der Mediziner. An dieser speziellen Stelle im Gehirn seien weltweit weniger als 20 solche Eingriffe dokumentiert.

Prell betont, dass auch nicht jeder Mensch dafür geeignet sei. Der Patient müsse der Idee, dass im wachen Zustand an seinem Gehirn operiert werde, erst einmal aufgeschlossen gegenüberstehen. Er müsse in der Lage sein, sich über mehrere Stunden zu konzentrieren, Aufgaben zu verstehen und zu lösen.

Für Dirk Rau war OP einzige Chance

Und ganz wichtig sei eine positive Grundeinstellung. „Jemand, der sich von der Diagnose niederwerfen lässt, der von Angst beherrscht ist, den können sie bei einer solchen Operation nicht führen“, unterstreicht Prell.

Dirk Rau bringt alle Voraussetzungen mit. Der 49-Jährige braucht auch nur wenig Bedenkzeit, um der Operation unter diesen speziellen Bedingungen zuzustimmen. „Ich habe den Ärzten vertraut“, sagt er.

Und nach einigem Zögern fügt der Wittenberger hinzu: „Im Grunde genommen war die OP meine einzige Chance, wieder ein normales Leben führen zu können. Dass das mit einem relativ hohen Risiko verbunden ist, war mir bewusst.“ Doch so positiv seine Grundstimmung auch ist - als es ernst wird, bekommt er doch ein mulmiges Gefühl. „So zwei Stunden vor der OP habe ich ganz schön gezittert“, erzählt er.

Den Eingriff führt - nach mehrwöchiger Vorbereitung - ein elfköpfiges Team durch. Die Neurochirurgen, Neurophysiologen und Anästhesisten haben im Vorfeld jede mögliche Situation und Komplikation durchgespielt. Auch mit dem Patienten. Ein heikler Moment ist zum Beispiel das Wachwerden nach der Schädelöffnung, die unter Narkose erfolgt.

Der Patient, dessen Kopf eingespannt ist und dessen Körper sich nicht bewegen darf müsse dann sofort erfassen, dass er sich in einer besonderen Situation befindet, sagt Professor Christoph Raspé, Leitender Oberarzt an der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin. „Was, wenn das nicht der Fall ist, was passiert, wenn es während der Operation Komplikationen gibt, was wenn es zu einem erneuten Krampfanfall kommt? Für alle diese Fragen gab es zwischen den Beteiligten klare Absprachen“, betont Raspé. Denn bei solch einem Eingriff könne nicht gesagt werden: Wir brechen jetzt ab und machen morgen weiter.

Dirk Rau ist während OP zwei Stunden wach

Aber Dirk Rau erweist sich als ein Musterpatient. Während der insgesamt fünfstündigen Operation ist er zwei Stunden wach. Er löst Rechenaufgaben in allen Grundrechenarten. Er liest dem OP-Team aus Robin Hood vor, er wird aufgefordert, an einem Bord gezielt nach farbigen Schrauben zu greifen, diese nach rechts oder links zu drehen, er zählt Wochentage und Monate in der richtigen Reihenfolge auf.

„Und manchmal haben wir uns einfach frei mit ihm unterhalten“, sagt Prell. Würde er bei den Aufgaben Fehler machen oder nicht mehr flüssig sprechen, wäre das ein Alarmsignal für die Ärzte. Die OP-Strategie müsste sofort geändert werden, das heißt, in dem betreffenden Areal dürfte nicht weitergearbeitet werden. Doch bis auf ein paar kleine „Wackler“ meistert er die Aufgaben mit Bravour.

„Noch auf dem Operationstisch, während die Schädeldecke verschlossen wurde, hat er sich mit dem Operationsteam im Plauderton über koreanisches Essen und die Vorzüge verschiedener Fluglinien unterhalten“, erzählt der Neurochirurg. Und als alles vorbei war, als Dirk Rau seinen Kopf schon wieder bewegen durfte, habe er einmal freundlich in die Runde geschaut und gesagt hat: „Ich möchte mich bei allen Beteiligten für diese Operation bedanken.“ Es sei ein erleichtertes Lachen ausgebrochen.

Den Ärzten, die an die Grenzen des Möglichen gegangen sind, fällt in diesem Moment eine Last von den Schultern. „Es war eine Hochrisiko-Operation“, sagt der Neurochirurg. Wenn er die einem Patienten vorschlage, dann prüfe er sich selbst ganz streng, ob es das Richtige sei. „Es ist ja schön, wenn die Patienten ihrem Arzt vertrauen. Aber es bürdet uns auch eine gewisse Last auf“, betont Prell. „Denn dieses Vertrauen will man nicht enttäuschen.“ Das gelingt dem Team. Es ist überzeugt, dass der etwa pflaumengroße Tumor vollständig entfernt ist.

Ein paar unangenehme Tage

Kurz nach dem schweren Eingriff gibt es aber doch ein paar kritische Tage. „Erwartungsgemäß“, wie Prell betonnt. Dirk Rau kann nicht mehr sprechen, nicht mehr lesen, nicht mehr rechnen. Zwar sei das bei derartigen Operationen nichts Ungewöhnliches, sagt der Arzt. Aber ein paar unangenehme Tage seien das schon gewesen.

Nach fünf Tagen ist auch diese Phase überstanden. Heute merkt ein Außenstehender Dirk Rau nicht an, was er hinter sich hat. Kleinere Defizite bei der Konzentrations- und Ausdauerfähigkeit sollen nach einer Reha Geschichte sein. Und in ein paar Monaten will Dirk Rau dann in die Wittenberger Orthopädie-Werkstatt zurückkehren. (mz)