Fünf Jahre nach dem Anschlag von Halle und Wiedersdorf Halles offene Wunde - Bundespräsident zündet Kerze an
Bürgermeister Egbert Geier sieht jeden Einzelnen in der Verantwortung, dass sich der Anschlag von 2019 nicht wiederholt. Zum Jahrestag gibt es viel Symbolhaftes. Doch auch darauf kommt es aus Sicht vieler Hallenser an.
Halle (Saale)/MZ - In der Trauer setzt auch das strenge Protokoll des Bundespräsidialamts mal aus. Nach dem Gedenken in der Ulrichskirche an den Anschlag 2019 läuft Frank-Walter Steinmeier mit Bürgermeister Egbert Geier (SPD) am Mittwochabend über den Boulevard zum Markt, auf dem Hunderte Hallenser bereits warten.
Der Bundespräsident mischt sich unter das Volk, schüttelt Hände, spricht mit Passanten. Mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, zündet er Kerzen an, um an die Opfer des Terroranschlags zu erinnern. Es ist der bemerkenswerte Abschluss eines denkwürdigen Tages.
Um die Mittagszeit, als vor fünf Jahren das Attentat seinen Lauf nahm, ist Karsten Lissau einer der Gäste in der Synagoge. Der Schmerz spricht aus seinem Gesicht. Am 9. Oktober 2019 hat er seinen Sohn Kevin verloren, erschossen im Kiez-Döner von einem rechtsextremen Attentäter. Doch das Mitgefühl und der Zuspruch, den der Merseburger erhält, sei gut für die Seele, sagt er. „Ich bin allen dankbar, die in den letzten Jahren für mich dagewesen sind. Sonst hätte ich es nicht geschafft, stabil im Leben zu sein.“ Dass er sich den furchtbaren Erinnerungen stellt, nötigt allen in der Synagoge Respekt ab.
Zu ihnen zählt auch John R. Crosby, Generalkonsul der USA für Mitteldeutschland. „Ich kann den Schmerz der Opfer nicht annähernd begreifen“, sagt er. Das Gedenken an den 9. Oktober 2019 sei aber ein starkes Zeichen gegen die Kräfte des Hasses, „die niemals gewinnen dürfen“. Crosby gehört später zu jenen Auserwählten, die in der Synagoge die letzten Schriftzeichen der neuen Torarolle setzen, an der ein Jahr gearbeitet wurde. Sie wird künftig in Erinnerung an Jana und Kevin, die beiden Todesopfer des Terrors, und aller Betroffenen gelesen.
Schon am frühen Mittwochmorgen wurden vor der Synagoge in der Humboldtstraße und vor dem einstigen Kiez-Döner – heute ein Raum der Erinnerung und Solidarität namens Tekiez – Kränze niedergelegt. Die Polizei sperrte die Umgebung ab dem Morgen mit Gittern und reichlich Personal aus Sicherheitsgründen ab. In der Synagoge, in die auch Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) gekommen war, begann am Mittag der offizielle Teil der Gedenkveranstaltungen.
Zur gleichen Zeit stoppten in Halle die Straßenbahnen. So hielt um 12.03 Uhr – zu der Uhrzeit hatte der Attentäter vor fünf Jahren seinen Terrorakt begonnen – auch eine Bahn der Linie 10 am Haltepunkt Neustadt-Zentrum. Fahrgäste wurden per Durchsage informiert, dass die Bahn für zwei Minuten nicht weiterfährt, um eine Schweigeminute in Gedenken an den Halle-Anschlag einzulegen. Manch Fahrgast zeigte kein Verständnis. Eine Frau sagte: „Ich finde das nicht gut, weil ich es eilig habe. Aber verstehen kann ich es.“ Andere Fahrgäste hielten die Aktion für gut und richtig. Auch wenn die sie nur symbolischen Wert hatte, wollte eine ältere Dame sie nicht kleinreden. „Sonst wäre es so, dass uns gar nichts mehr interessiert“, sagte sie.
Am Nachmittag kam dann der Bundespräsident. Vor den Kränzen am Tekiez hielt er lange inne, ging in die Knie. Für ein Gespräch mit Betroffenen und Opfern des Anschlags nahm er sich eine Dreiviertelstunde Zeit, besuchte anschließend die Synagoge und schließlich die Ulrichskirche. Dort sprach Bürgermeister Geier von „der Wunde, die das Attentat unserer Stadt Halle zugefügt hat“. Und er betonte: „Jeder von uns trägt Verantwortung dafür, dass sich solch eine Tat nicht wiederholt.“
Was auffiel an diesem Jahrestag: Die Menschen tauschten sich dazu aus oder legten selbst Blumen nieder. Eine Gruppe Anwohner kam nahe der Synagoge ins Gespräch, das Stichwort NSU fiel. In der Straßenbahn erzählten sich junge Menschen, wo sie damals waren. Steinmeier sagte in seiner Rede: „Erinnern ist eine Aufgabe, die wir gemeinsam haben, weil wir uns an die Seite der Opfer stellen.“
Das Bündnis Halle gegen Rechts veranstaltete am Mittwoch einen Gedenkrundgang. Das Bündnis wollte damit zum einen erinnern und zum anderen Solidarität ausdrücken. Denn es sei wichtig, nicht zu vergessen. Zugleich wurde dazu aufgefordert, den Antisemitismus in der Gesellschaft klar zu bekämpfen.
In Wiedersdorf, dem zweiten Anschlagsort, erinnerte am Mittwoch nichts an das Grauen von 2019. Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Halle, will das ändern. „Ich werde Vertreter des Ortes in die Synagoge einladen und auch selbst nach Wiedersdorf fahren“, sagt er der MZ. Niemand dürfe alleingelassen werden. Laut dem Landsberger Bürgermeister Tobias Halfpap „hat der Anschlag in Landsberg das Bewusstsein für die realen Gefahren von Extremismus geschärft“.