Verschwörung für die Freiheit Hallenser protestierten mit Anschlag gegen Berliner Mauer: Jugendlicher Widerstand in den letzten Tagen der DDR

Halle (Saale) - Vor allem an diese eine Nacht hat Andreas Adam später immer wieder mit Schrecken gedacht. „Wir waren so naiv“, sagt er heute, „und die hätten uns so einfach schnappen können.“ Die, das wären ausgerechnet die gewesen, denen der damals gerade 20-Jährige eben entkommen war.
Kurz vor der Kommunalwahl im Frühjahr 1989, die die letzte der DDR werden sollte, hatte die Staatssicherheit den Hallenser als so überzeugten Staatsfeind eingeordnet, dass Adams schon länger laufender Ausreiseantrag Knall auf Fall genehmigt und der gelernte Mechaniker in den Westen abgeschoben wurde. Und auf einmal lag er schon wieder hier, eindeutig auf DDR-Gebiet, flach hingepresst auf den Boden und in Reichweite den Molotov-Cocktail, gebaut aus einer Bierflasche, der gleich Richtung Mauer und Niemandsland fliegen sollte.
Der Widerstand gegen die DDR begann schon in jungen Jahren
„Wir hatten die Gegend vorher angeschaut“, sagt Raik Adam, Andreas’ Bruder, der die DDR schon einige Jahre früher verlassen hatte. „Aber es hätte doch etwas passieren können.“ Zehn Jahre Gefängnis. Wieder unter der Fuchtel der Genossen, vor denen Andreas, Raik und ihre halleschen Freunde Dirk Mecklenbeck und René Boche geflüchtet waren. „Man wusste das“, sagt Raik Adam, „aber man wusste auch, dass man was tun wollte gegen diese Mauer, gegen das Regime und dagegen, dass die Westberliner sich längst an all das gewöhnt hatten.“
Nicht so die jungen Männer, die sich aus der gemeinsamen Zeit im Kindergarten im halleschen Paulusviertel und in der Schule in Halle kennen. Zusammen sind sie groß geworden, zusammen haben sie die ersten Auseinandersetzungen mit den strengen Regeln der DDR-Meinungsdiktatur bestanden. „Irgendwann in der 6. Klasse“, erinnert sich Raik Adam, „war so ein Bürschchen der Meinung, wir bräuchten eine Staatsbürgerkunde AG“. Gemeinsam bitten die Jungen den Sohn eines Volkspolizei-Offiziers auf die Schultoilette. „Dort haben wir ihm sehr sanft beigebracht“, sagt Adam, dass er das am besten ganz schnell vergessen soll.“
Vom Schüler zum Staatsfeind: Erste Gedanken an eine Flucht
Natürlich fliegt die Geschichte auf. Aus den vier Jungen aus christlich geprägten Elternhäusern werden Staatsfeinde. „Die Stasi kam in die Schule, wir standen fassungslos dabei, als die erstmal den Direktor rundgemacht haben.“ Danach folgt die Kopfwäsche bei den Kindern, denen verboten wird, Mitglied der Jugendorganisation FDJ zu werden. Eine Strafe, die Raik, Andreas, Dirk und René innerlich jubeln lässt.
„Damals schon haben wir beschlossen, dass wir raus müssen aus der DDR, dass wir nicht eingesperrt leben wollen und nach Vorschriften, die uns andere machen“, erinnert sich Andreas Adam. Nicht einmal in den engen Grenzen der kleinen DDR sei man ja frei gewesen, zu tun, was man wolle, bestätigt Bruder Raik. Schon allein der Versuch, mit dem Zug in den Harz zu fahren, um dort zu wandern und zu campen, konnte mit einer Nacht im Polizeiarrest enden. „Wir hatten lange Haare, einen Rucksack dabei, Jack Kerouacs Roman ,On the road’ in der Tasche und ein Messer“, schüttelt der 51-Jährige den Kopf, „da war für die klar, dass wir abhauen wollten.“
Mit Heavy Metal und Lederjacke gegen den Strom
Natürlich, aber kühl und strategisch geplant. Eine Lehre wollen sie vorher machen, um im Westen nicht mit leeren Händen anzukommen. Trotzdem: Unterwerfung ist nicht drin. „Wir wollten leben, nicht gelebt werden“, sagt Andreas Adam, der wie sein großer Bruder und die anderen auf Heavy Metal steht, Motorrad fährt und ein Wochenende im Wald gemeinsam mit Freunden allemal jeder Diskoveranstaltung vorzieht.
Die Stasi hat die Metaller-Clique mit ihren Lederjacken, den selbstgebastelten Nietengürteln und den provokanten Buttons mit den Namen von Judas Priest, Iron Maiden und dem Gesicht von Michael Gorbatschow früh auf dem Schirm. Aber Dirk Mecklenbeck, Raik Adam und die anderen haben sowieso abgeschlossen mit der DDR. „Für unsere Ausreiseanträge haben wir in der Uni-Bibliothek sogar nach der Menschenrechts-Charta gesucht“, erinnert sich Raik Adam, der bei allen sogenannten „Rückgewinnungsgesprächen“ hart bleibt.
Die Ausdauer hat sich gelohnt: Freiheit im Westen
Nach 17 Monaten gibt die Stasi auf. Die Kontrolle des A. sei nur mit „großem Aufwand“ möglich, heißt es in erhalten gebliebenen Akten. Und: Eine Aussicht auf Rücknahme des Ausreisewunsches bestehe nicht. Raik Adam darf ausreisen. „Ihre Rache war, dass ich am Tag der Beerdigung meines Großvaters gehen musste, der mich immer in meiner Haltung bestärkt hatte.“
Der Westen bedeutet Befreiung. „Das war eine ganz andere Szene dort“, erinnert sich Raik Adam an das wilde Leben in einem Haus in Westberlin, in dem sich nach und nach ein ganzer Trupp ehemaliger Hallenser versammelt. Die Staatssicherheit hat eine junge Frau in die Truppe geschmuggelt, die daheim emsig berichterstattet. „Aber das wussten wir damals zum Glück nicht“, sagt der gelernte Sattler, der seine neue Freiheit am Anfang vor allem dazu nutzt, die ganze vorher so ferne Welt zu bereisen, ehe er schließlich Unternehmer wird.
Die DDR verlassen, aber die Mauer nicht vergessen
Doch man kann die DDR zwar verlassen, aber richtig loswerden kann man sie nicht, das wird den Adam-Brüdern, Mecklenbeck, René Boche, Heiko Bartsch und den anderen immer klarer. „Als Andreas kam, brachte er Nachrichten mit, dass es gärt, dass die Friedensgebete voller werden und sich Leute in Leipzig trauen, auf die Straße zu gehen“, sagt Raik Adam. Nachdem dann Egon Krenz, Honeckers auserkorener Nachfolger, das brutale und blutige Vorgehen der chinesischen Führung gegen die protestierenden Studenten auf dem Tiananmen-Platz ausdrücklich lobt, ist sich die Gruppe einig: „Wir haben gesagt, wir müssen jetzt was tun, einfach ein Zeichen setzen.“
Ein Plan ist schnell geschmiedet: Mit Brandflaschen soll der Todesstreifen an der Mauer illuminiert werden. Kurzzeitig drohen Grenzsoldaten, die Aktion auffliegen zu lassen. „Später haben wir einen verlassenen Bereich an der Grenze ausfindig gemacht, an dem wir bis an den Gitterzaun kriechen konnten“, beschreibt Andreas Adam. Mit Bolzenschneidern gelingt es den Mauerkriegern, große Dreiecke aus der verhassten Grenzanlage zu schneiden. „Natürlich haben wir gewusst, dass das den eisernen Vorhang nicht zusammenbrechen lassen wird“, sagt Raik Adam, „aber wir wollten die Herrschenden in der DDR spüren lassen, dass wir im Westen im Gegensatz zur Mehrheitsgesellschaft dort die Mauer nicht vergessen haben, nur weil sie uns selbst nicht mehr gefangen hält.“
Dank Maskierung kam die Stasi nicht auf die Hallenser
Wichtig ist es in dieser Phase, unbedingt anonym zu bleiben. „Wir hatten alle noch Freunde und Verwandte auf der anderen Seite, keiner von uns wollte, dass denen etwas geschieht.“ Die Mauerkrieger ziehen also in der typischen Metal-Montur aus Jeans, T-Shirt und Lederjacke in den Kampf, tragen aber vorsichtshalber immer ein Tuch vor dem Gesicht und einen Motorradhelm. Mit Recht, wie Raik Adam aus den Stasi-Akten zur Fahndungsnummer HBC 2850 weiß. „Die sind uns vorher schon jahrelang bei jeder Transitreise hinterhergefahren und haben jede Bewegung aufgeschrieben.“
Dass die Stasi-Bewacher dennoch nie bemerken, dass die „feindlich-negativen Kräfte“ um die Adam-Brüder an Raststätten und Parkplätzen verbotene Bücher, Zeitungen und Zeitschriften an in Halle zurückgebliebene Freunde übergeben, verwundert Andreas Adam bis heute. „Als wir die Maueraktionen gemacht haben, haben sie zwar alle Hebel in Bewegung gesetzt, um rauszubekommen, wer dahintersteckt, aber sie haben nie einen Zusammenhang zwischen uns und den Brandflaschenwürfen auf die Grenzanlagen herstellen können“, sagt er.
Ein Zeichen kurz vor dem Fall der Mauer
IM „Vera Stein“, die eigens aus Halle an die Westfront geschickt worden ist, kann auch nicht helfen. „Wir waren zum Glück instinktiv schlau genug, diese Seite unserer Aktivitäten wirklich nur im allerengsten Kreis zu diskutieren.“ Bis zuletzt sucht die Stasi so vergebens nach den Verantwortlichen für die Angriffe auf den Todesstreifen, die Absender der Brandflaschen, die auf einem Wachturm landeten, und den Urhebern des Plakates mit der Aufschrift „Freiheit und Demokratie für die DDR“, das zum Ärger der Staatssicherheit auch vom Ostteil Berlins aus gut zu sehen ist. Als die Mauer endlich fällt, liegen sich die Freunde aus Halle glücklich in den Armen. Und wenige Wochen später sind sie zurück in Halle, um sich bei der Montagsdemo einzureihen.
Dirk Mecklenbeck, Raik Adam, Todesstreifen, Grafik-Novelle, Ch. Links Verlag, 96 S., 10 Euro
Homepage der Mauerkrieger: www.raikadam.jimdofree.com