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Halle Halle: Schloß-Villa war für viele letzte Zuflucht

Von MICHAEL FALGOWSKI 29.10.2010, 19:52

Halle (Saale)/MZ. - Die Ernst-Rudolf-Weise-Straße am Hauptbahnhof ist kein schöner Ort. Auch die einst prächtige Industriellen-Villa in der Nummer 20 ist heruntergekommen, der dichte Verkehr zum Riebeckplatz lärmt. Dennoch ist die Gründerzeitvilla ein besonderes Haus: Die Gestapo wollte es 1939 zum "Judenhaus" erklären, in dem nur die entrechteten Juden leben durften. Das geschah zwar nicht, doch auch so wohnten Anfang der 1940er Jahre in der Villa der Unternehmerfamilie Schloß nur noch jüdische Hallenser - bis zu ihrer Deportation. Die meisten wurden ermordet.

Die Geschichte dieses Gebäudes ist seit gestern mit vier blinkenden Messing-"Stolpersteinen" im Pflaster dem drohenden Vergessen entrissen. Auf den Steinen eingraviert sind die Namen von vier ehemaligen Bewohnern. Erinnert wird an den Kinderarzt Josef Schloß, der sich 1940 hier das Leben nahm, an seine Schwester Marie, die in Auschwitz starb sowie die Familienmitglieder Gretchen und Eva Schloß. Sie alle wurden 1942 deportiert und ermordet.

Das Schicksal wird konkreter

"Sechs Millionen ermordeter Juden, das ist eine so abstrakte Zahl. Durch die Stolpersteine wird das Schicksal der Menschen konkreter nachvollziehbar", sagte Heidi Bohley vom halleschen Zeitgeschichte(n)-Verein, der die Stolperstein-Aktion seit neun Jahren in Halle begleitet. Der Gedenk-Pflasterstein für Josef Schloß war bereits der 150. in der Stadt.

Die Villa in der ehemaligen Königstraße, die der Viehhändler Moritz Schloß 1897 mit Frau und acht Kinder bezog, beherbergte Anfang 1942 auch das Apotheker-Ehepaar Weiß. Außerdem die Kaufmannsfamilie Oppenheim aus Halle. Sie alle durften nach der Einführung der Rassengesetze nicht mehr mit Ariern unter einem Dach leben. Es war ihre letzte Zuflucht: Im Juni 1942 wurden auch diese Mieter deportiert und ermordet.

Gestern hat jeder einen "Stolperstein" erhalten. Die Nummer 150 für den Kinderarzt Josef Schloß spendete - knapp 100 Euro - die Hallenserin Sigrid Kramm. "Das war mir wichtig. Meine Großeltern haben oft mit Dankbarkeit von ihm gesprochen, meine Mutter war seine Patientin", sagte die 55-Jährige.

Auch Max Schwab war bei dem Verlegen der vier "Stolpersteine" an der Schloß-Villa dabei. "Meine Familie hatte auch einen Viehhandel, damals war sie die Konkurrenz der Firma", erzählt der 78-jährige Geologie-Professor, der sich im Zeitgeschichte-Verein engagiert. Zudem sei seine Schwester noch Patientin bei Josef Schloß gewesen - noch sind also die Spuren der halleschen Juden nicht ganz verwischt. "Die Stolpersteine sollen auch künftig die Erinnerung an sie wach halten", so Heidi Bohley.

Lesung im Stadtmuseum

Das will auch Schloß-Nachfahrin Ilse Doerry, die ebenfalls an der Villa war. Gestern Abend las die 81-Jährige im Stadtmuseum aus dem von ihrem Sohn herausgegeben Buch: "Mein verwundetes Herz - Das Leben der Lilly Jahn 1900 bis 1944". Es erzählt die Geschichte ihrer Mutter. Jahn war die Enkelin des Firmengründers Moritz Schloß, sie studierte einige Semester in Halle Medizin (die MZ berichtete). Das Buch der Familiengeschichte ist inzwischen in 20 Sprachen übersetzt worden.

Erinnern will auch Jan Herzojen aus Belgien. Er spendete einen der Stolpersteine, die gestern an acht weiteren Adressen in Halle verlegt worden. "Ich habe selbst einige Schicksale von Juden veröffentlicht - so bin ich auf die Stolpersteine in Halle gekommen", sagte der Belgier aus Mechelen, wo sich seinerzeit das zentrale Durchgangslager für die Juden befand. "Sein" Stein befindet sich an der Kleinen Brauhausstraße 7, wo der Kaufmann Mendel Mühlbauer mit seiner Familie wohnte. Herzojen will nun auch an der letzten Wohnadresse der Familie vor der Deportation nach Auschwitz, in Brüssel, einen Stolperstein verlegen lassen.

Infos über die Menschen, denen die Stolpersteine gewidmet sind, gibt es im Internet unter www.zeit-geschichten.de.