1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Halle
  6. >
  7. Halle: Halle: «Nicht eine Stasi-Nase blutig geschlagen»

Halle Halle: «Nicht eine Stasi-Nase blutig geschlagen»

Von MICHAEL FALGOWSKI 07.09.2010, 18:41

HALLE/MZ. - Selbst als vor 20 Jahren die Zentralen der Staatssicherheit besetzt waren, herrschte große Unsicherheit. "Ich habe damals ein Tagebuch in doppelter Ausführung geführt - falls man es mir später wieder weggenommen hätte", beschreibt Ulrich Schlademann die eigene Gefühlslage jener Tage. 1990 war der Pfarrer in Halle der Vertreter des Volkskammer-Sonderausschusses zur Kontrolle des MFS / AFNS. Letzteres steht für "Amt für Nationale Sicherheit". So hatte sich der Dienst umbenannt, ehe er später in Verkennung aller Realitäten sogar Briefköpfe mit dem Wort "Verfassungsschutz" bedruckte.

Akten für 30 Jahre ins Archiv?

Schlademann ist am Montagabend einer der beiden Referenten der Veranstaltung "Zwischen Verdrängung und Aufarbeitung". Der Saal des Stadthauses ist gut gefüllt, deutlich mehr als 200 Gäste. Die meisten sind aber wohl wegen des zweiten Referenten, des Fast-Bundespräsidenten, gekommen: Joachim Gauck. Zehn Jahre lang war er Leiter der Stasi-Unterlagen-Bundesbehörde, die im Volksmund noch immer seinen Namen trägt.

"Bei aller Ungewissheit - sicher waren wir uns, dass die Spitzel-Akten der Staatssicherheit nicht im Bundesarchiv verschwinden sollten - für 30 Jahre gesperrt", sagt Gauck. Denn auch diese Option gab es. "Der Öffentlichkeit die Geheimdienstakten zugänglich zu machen, das war bis dahin ohne Beispiel", äußert Gauck. Viele hätten damals mit dem Datenschutz argumentiert, hätten vor Mord und Totschlag gewarnt. Damals wie heute kann er darüber nur den Kopf schütteln. "Datenschutz darf nicht Täterschutz bedeuten. Und zu Mord und Totschlag kam es auch nicht: Es wurde nicht eine Stasi-Nase blutig geschlagen."

Doch der Umgang mit den Akten blieb auch innerhalb der Bürgerbewegung umstritten. "Viele wollten einfach jedem seine Akte geben, und gut. Aber es gibt eben Rechtsnormen, die zu achten sind", so der Theologe. Mit dieser Einstellung geriet der Behördenleiter bei vielen seiner Mitstreiter in den Ruf des Bürokraten, wie er weiß. Gauck verurteilt im Stadthaus auch die Bekanntmachung der IM-Listen in Halle: 4 000 hallesche Namen standen darauf, von insgesamt 11 000 inoffiziellen Mitarbeitern im damaligen Bezirk Halle. Er sei gegen Prangerveröffentlichungen: Da stehe der größte Verbrecher neben dem armen Knilch, der irgendwann mal in Not unterschrieben und nie was geliefert habe, kritisiert er. "Schön war das mit den Listen aber doch", ruft eine Frau im Saal. Gauck lacht.

Zahl der Anträge wächst

Heute steigt das zwischenzeitlich zu erlahmen drohende Interesse an den Stasi-Akten wieder: "Seit 2004 wächst die Zahl der Anträge auf Akteneinsicht in Halle kontinuierlich an", sagt Uta Leichsenring, Leiterin der Stasi-Unterlagenstelle Halle, die die Veranstaltung moderiert. Außerdem steige die Zahl der Anfragen von Nachfahren von Verstorbenen. Bisher seien diese Anfragen vergeblich. Das erlaube das vor 20 Jahren beschlossene Gesetz nicht. Insgesamt seien in Halle übrigens 83 Prozent der Akten aufgearbeitet. Warum das Interesse an Akteneinsicht wieder steige, fragt ein Zuhörer. "Viele Leute fassen tatsächlich erst jetzt den Mut, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen", vermutet Gauck. Und es kämen inzwischen auch viele damals noch junge Leute.