Modernster Güterbahnhof Europas Halle: Modernster Güterbahnhof Europas eröffnet

Die Eidechsen sind wieder da. Überall im Gelände haben die Planer zwischen den Gleisen Haufen aus alten Brettern, Schotter oder Steinen aufschichten lassen, als Zuflucht für die Tiere. Streng geschützt, waren sie während der Bauzeit umgesiedelt worden. Noch heute leben viele Exemplare in zwei eigens eingerichteten Habitaten außerhalb des neuen halleschen Güterbahnhofs. Doch auch dort sind sie nun wieder heimisch, dank der Rückzugsorte aus Holz und Gestein.
Die Eidechsen-Haufen fallen erst bei einem Rundgang entlang der Gleise auf. Wie groß der Güterbahnhof ist, das wird dagegen am besten aus der Vogelperspektive deutlich. Etwa von der Berliner Brücke aus, die die Gleisanlagen überspannt und den Osten Halles mit innenstadtnahen Vierteln verbindet. Schienenstrang liegt neben Schienenstrang, 43 Kilometer Gleise sind neu gelegt worden.
Noch herrscht hier Ruhe. Erst am kommenden Montag wird der planmäßige Betrieb im neuen Bahnhof aufgenommen. Aber was heißt Bahnhof? Planer und Güterverkehrsexperten sprechen lieber von einer „Zugbildungsanlage“. Klingt sperrig, beschreibt aber genau, was auf dem Gelände nördlich des halleschen Hauptbahnhofes künftig passiert. Ankommende Güterzüge werden auseinandergekuppelt und neu gebildet, je nachdem, welches Fahrtziel die Fracht hat.
Die hallesche Anlage, die bis zu 2.400 Waggons täglich passieren können, gehört zu den zehn größten ihrer Art in Deutschland - und ist nach Bahn-Angaben die modernste Europas.
Halle soll vor allem als Umschlagplatz dienen zwischen den Seehäfen sowie Ost- und Südeuropa. Dafür baut die Bahn die entsprechende Güterzugstrecke aus, den sogenannten Ostkorridor, die Strecke von Uelzen (Niedersachsen) über Stendal, Halle und Leipzig nach Bayern, von dort weiter nach Süd- und Osteuropa. Halle wird damit zur zentralen Güterverkehrsdrehscheibe im Osten.
Ein Beispiel, wie die Trennung der Waggons funktioniert: Ein Güterzug bringt Waggons aus dem Norden nach Halle. Dort wird der Zug geteilt; einige Waggons rollen in anderen Zügen weiter Richtung Budapest, andere werden an Züge nach München oder Genua angehängt.
Logistiker nennen dieses Prinzip Einzelwagensystem. Es ist wahnsinnig aufwendig, weil die Güterwaggons auf ihrer langen Reise häufig nicht nur einmal den Zug wechseln. Rund die Hälfte aller Waren auf der Schiene in Europa wird so transportiert.
Die Alternative sind sogenannte Ganzzüge, die von A nach B rollen, ohne unterwegs auseinandergerissen zu werden. Das ist schneller und billiger. Doch Ganzzüge sind vor allem für Massengüter geeignet, die in großen Mengen produziert und befördert werden: Kohle, Öl oder Autoteile.
Modernster Güterbahnhof in Halle: Hoffnung auf neue Arbeitsplätze und Firmen-Ansiedlungen
Seit dem Baubeginn 2013 werden in Halle und im Umland große Hoffnung in den Güterbahnhof gesetzt - auf neue Arbeitsplätze, auf Firmen-Ansiedlungen. Dabei werden in Halle gar keine Waren umgeschlagen. „Hier werden keine Waggons be- oder entladen“, sagt Thomas Necker von der Bahn-Tochter DB Netze, die für die Gleisanlagen verantwortlich ist.
Dennoch ist Necker überzeugt, dass neue Jobs entstehen werden: „Für Firmen ergibt es Sinn, sich hier anzusiedeln, weil die Transportwege kürzer sind.“ Damit werde Bedarf bei der Wirtschaft geweckt, ist Necker sicher. So verhandelt die Bahn gerade mit einem Logistik-Unternehmen aus Queis (Saalekreis) über den Bau eines Gleisanschlusses. Bis zum neuen Güterbahnhof sind es nur wenige Kilometer, die Firma könnte ihre Fracht also schnell auf die Schiene bringen.
Immerhin: Auch die Bahn bietet auf dem Güterbahnhof 125 Arbeitsplätze, etwa für Fahrdienstleiter, die von einem Stellwerk aus den Betrieb überwachen. Oder für Mitarbeiter, die Waggons auseinander- und wieder zusammenkuppeln.
Dies muss auch nach 183 Jahren Eisenbahn in Deutschland immer noch von Hand erfolgen. „Für das Kuppeln von Hand gibt es noch keine vernünftige Alternative“, sagt Bahn-Ingenieur Necker. Um ein automatisches Kupplungssystem sinnvoll nutzen zu können, müssten zigtausende Güterwaggons in Europa auf einmal umgerüstet werden, das sei illusorisch.
Die meisten der Mitarbeiter, die sich per Hand um die Züge kümmern, werden allerdings nicht neu eingestellt. Die Bahn übernimmt sie von den Rangierbahnhöfen in Leipzig-Engelsdorf und Dresden-Friedrichstadt, die zugunsten Halles stillgelegt werden.
Darunter auch Beschäftigte, die per Fernsteuerung Rangierloks bedienen, oder Wagenmeister. Sie überprüfen Ladung und Bremsen der Waggons, bevor diese in neu zusammengestellten Zügen ihre Reise fortsetzen. Gearbeitet werden soll in Schichten rund um die Uhr.
Auf Rangierbahnhöfen macht sich die Bahn jenseits aller Automatisierung ganz simpel die Schwerkraft zunutze. Herzstück ist auch in Halle der Ablaufberg, ein kleiner Hügel, auf den ein Gleis führt. Auf der anderen Seite geht es wieder bergab, das Gleis fächert sich über mehrere Weichen auf in insgesamt 36 sogenannte Richtungsgleise.
In diesen entstehen Wagen für Wagen die neu zusammengestellten Güterzüge. Dafür drückt eine Rangierlok zunächst die Güterwagen den Ablaufberg hinauf. Von dort rollt Waggon um Waggon von selbst bergab, vorbei an einer unscheinbaren gelben Säule. Darin befindet sich ein Scanner, der den außen an jedem Wagen angebrachten Frachtzettel ausliest: Herkunfts- und Zielort, Ladung, Gewicht.
Die Daten laufen in einem Rechner ein, der die Weichen so stellt, dass der Waggon im richtigen Gleis ankommt. Das alles passiert innerhalb von Sekunden. Der Rechner ermittelt auch, wie stark die Wagen auf ihrer Talfahrt abgebremst werden müssen - dies erfolgt mit ins Gleisbett eingebauten automatischen Bremsanlagen.
Fest steht: Es wird laut. Es verursacht Lärm, wenn ein Waggon vom Ablaufberg rollt und in dem für ihn bestimmten Gleis auf andere Waggons trifft. Auch das Bremsen herabrollender Wagen oder ankommender Güterzüge macht Lärm - wenn Bremsklötze sich auf Räder pressen und schrill quietschen.
Erst zwei Drittel der rund 64.000 Güterwagen der Bahn-Frachttochter DB Cargo verfügen über so genannte Flüsterbremsen, die vergleichsweise leise sind. Europaweit sind noch weniger Waggons umgerüstet.
Wie laut es wirklich wird, weiß noch niemand. Die Bahn hat mehrere Kilometer Lärmschutzwände gebaut. 100 Haushalte entlang des Güterbahnhofs und der Zufahrtsstrecken haben Anspruch auf Schallschutzfenster und Lüfter. Ob das reicht, wird sich ab Montag zeigen. (mz)