DNA-Abgleich Halle: Kellnerin vergewaltigt, DNA führt zum Tatverdächtigen
Halle (Saale) - Um Ute D.s Leben in Scherben zu legen, brauchte der Fremde nur Minuten. In kurzen, ewigen Momenten machte er aus einer zufriedenen Frau ein Opfer, das die Angst bis heute nicht los wird. „Wenn einer hinter mir steht, da kriege ich Panik“, sagt sie. Dabei ist die Nacht, die ihr Leben änderte, schon 15 Jahre her.
Im Juni 2001 wurde Ute D. vergewaltigt. Der Mann, der sie damals missbrauchte, entkam. Er hinterließ am Tatort eine gezeichnete Frau und seine DNA. Jahre vergehen ohne die geringste Spur auf den Täter, als plötzlich die Datenbank des Landeskriminalamtes eine Übereinstimmung mit der Archivprobe ausspuckt.
Die Spermaspuren von damals stimmen mit Speichel auf einer Zigarettenkippe, die die Polizei im Frühjahr 2016 an dem Tatort eines Einbruchs fand, überein. „Ein Kreuztreffer“, erklärt Andreas von Koß, Sprecher des Landeskriminalamtes in Magdeburg.
Zu 99,9999 Prozent sei sicher, dass das genetische Material in beiden Fällen von derselben Person stammt. Einige Zeit später schnappt die Polizei den Einbrecher. Seit Ende Oktober muss der mehrfach vorbestrafte Hallenser sich nun vor dem Landgericht Halle wegen Vergewaltigung verantworten: 5 611 Tage nach der Tat.
Die Tat: Am 16. Juni 2001 um 3.15 Uhr schließt Kellnerin Ute D. den Seiteneingang einer Kneipe in Halle von außen ab. Plötzlich packt ein Mann sie in der dunklen Gasse von hinten, reißt an ihren Haaren. Sie schreit vor Schmerz. Daraufhin schiebt er ihr einen Gegenstand in den Mund.
Er zwingt die geknebelte Frau, die Tür wieder zu öffnen und schiebt sie in die Kneipe. „Das Licht bleibt aus“, sagt er, und droht: „Schreist du nochmal, bringe ich dich um.“ Dann entfernt er den Knebel.
Sie fleht, bietet die Tageseinnahmen aus der Kasse an, er soll nur schnell verschwinden. Doch ihm geht es nur um Sex.
Er vergewaltigt die Kellnerin. Noch während Ute D. um ihr Leben bangt, nimmt er in aller Ruhe einen Anruf am Handy entgegen. „Schatz, ich komme gleich“, sagt der Vergewaltiger zu dem Anrufer, legt auf und missbraucht Ute D. weiter.
Nach der Tat rennt er davon. Ute D. ruft die Polizei und hüllt sich in eine Tischdecke. Die Beamten finden eine aufgewühlte, weinende Frau. Die Ermittlungen ergeben eindeutig, dass die Frau vergewaltigt wurde.
Die Ermittlungen: „Es kommt immer mal wieder vor, dass alte Fälle wieder aufgerollt werden, weil es Kreuztreffer in der Datenbank gibt“, so von Koß. Dass damit ein „solcher herausragender Fall“ wieder angestoßen wird, sei aber nicht alltäglich.
Die DNA-Kartei, auf die das Landeskriminalamt zurückgreift, umfasst das genetische Material von tausenden Verdächtigen aus ganz Europa. Spuren von noch unbekannten Tätern bleiben immer in der Datensammlung, so von Koß.
„Die Untersuchung des genetischen Materials ist ein standardisiertes Verfahren und dauert in der Regel einen Tag“, sagt der Sprecher. Das Ergebnis sei in jedem Falle eindeutig, denn die DNA jedes Menschen ist einmalig, selbst Proben eineiiger Zwillinge könnten laut von Koß mit Hilfe der neuesten Technik klar zugeordnet werden.
Sobald die Datenbank einen Treffer anzeigt, geht der Fall zurück an die Polizei. Danach wird ein Gutachten erstellt, denn der DNA-Treffer ist nicht automatisch der Auslöser für eine Anklage. Im Falle der Vergewaltigung vor 15 Jahren reichte die Übereinstimmung aus, um zunächst einen Haftbefehl zu erlassen.
Der Angeklagte wurde im Juli in Untersuchungshaft in die Justizvollzugsanstalt Roter Ochse nach Halle gebracht. Ein Gutachten bescheinigte letztlich, dass die DNA-Treffer zu dem Hallenser gehören. Das Strafverfahren vor Gericht konnte dann im Oktober dieses Jahres beginnen.
Der Prozess: Vor dem Landgericht schweigt der Angeklagte zu den Vorwürfen. Sollte der 41-Jährige schuldig gesprochen werden, drohen ihm mindestens zwei Jahre Haft.
Im Gerichtssaal sieht er sein mutmaßliches Opfer nicht einmal an. Ute D. dagegen zittert und ringt nach Worten, als sie die Vergewaltigung schildern soll. Sowohl sie als auch Polizeibeamte müssen in den Zeugenstand, denn die DNA-Übereinstimmung allein reicht für eine Verurteilung nicht aus.
DNA-Übereinstimmung reicht für die Verurteilung eines Vergewaltigers nicht aus
„Sie ist ein gewichtiges Indiz, aber nicht das allheilbringende Argument“, sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Dennis Cernota. „So leicht kann es sich das Gericht nicht machen.“
Die Richter müssten die „Gesamtheit aller Umstände betrachten“, um sich ein Urteil bilden zu können. Es muss etwa auszuschließen sein, dass das Sperma auf eine andere Weise an das Opfer gelangt sein könnte. Erst wenn alle Zweifel beseitigt sind, urteilt das Gericht.
Das wird jedoch erheblich schwieriger als üblich, denn es fehlen auch noch wichtige Ermittlungsakten. Die Staatsanwaltschaft weiß weder, wo sie sein könnten, noch, ob sie vernichtet wurden. Auch über die Zerstörung müsste es eigentlich einen Vermerk geben.
Die Verteidigung beantragte deshalb zuletzt eine Unterbrechung des Verfahrens. Das Gericht lehnte dies jedoch ab, eine Akteneinsicht sei aussichtslos, da die Akten vernichtet seien. Es wird angenommen, dass sie durch Wasserschäden zerstört wurden.
„Eine weitere Suche begründet die Aussetzung nicht“, so das Gericht. Unter diesen Umständen spielen Ute D.s Aussagen eine besondere Rolle, denn Augenzeugen gibt es nicht.
Das Opfer: Ute D., die einzige Zeugin, erinnert sich bis heute gut an diese Nacht 2001. „Als der Anruf kam, war sofort alles wieder da - als wäre es gestern erst passiert“, sagt die ehemalige Kellnerin im Gespräch mit der MZ.
Den Angeklagten vor Gericht zu sehen, sei für sie ein Schock gewesen. „Ich war wütend“, erzählt sie. Nach der Tat sei ihr Leben nie wieder wie vorher gewesen, trotz aller Bemühungen, das Geschehene zu verdrängen, „konnte ich das nie richtig abschütteln“.
Mehr als ein Jahr lang plagten Ute D. große Ängste. Die Kellnerin traute sich nicht mehr, in die Gasse zu laufen, in der der Täter sie packte. Stammgäste und Freunde schlossen fortan täglich die Seitentür zu, während Ute D. am Vordereingang wartete.
Über ein Jahr ging das so, die Freunde wechselten sich ab, damit die Kellnerin nie wieder allein die Tür zusperren musste. Zwar arbeitete die Hallenserin noch einige Zeit in der Kneipe, sogar am Abend nach der Vergewaltigung stand Ute D. hinter dem Tresen. Sie hatte nach eigenen Aussagen aber ständig Angst, der Täter würde zurückkehren.
Einmal war ihr ein unbekannter Gast, der stumm an einem Bier nippte, so verdächtig, dass sie die Polizei verständigte. Dabei wusste Ute D. nicht, ob der Gast ihrem Vergewaltiger überhaupt ähnelte - sie hatte ihn bei der Tat nicht richtig gesehen, „es war zu dunkel“.
Der Gast war nicht der Täter, ergab ein DNA-Test. „Dass sich Opfer nicht an Täter erinnern, ist nicht ungewöhnlich, weil in dem Moment gerade bei einer solchen Tat für das Opfer sicher die empfundene Gewalt im Fokus steht“, sagt Gerichtssprecher Wolfgang Ehm.
Das Privatleben von Ute D. bröckelte nach der Vergewaltigung: „Längere Beziehungen konnte ich danach nicht mehr führen. Einer hat mich verlassen, als ich ihm gesagt habe, dass ich vergewaltigt wurde. Sonst bin ich schnell auf Abstand gegangen, sobald eine blöde Bemerkung in die Richtung kam.“ Noch heute dürfe ihr niemand in die Haare fassen.
Schon seit Jahren lebt Ute D. allein, will keine Beziehung mehr. Es ist, „als ob ich abgestumpft wäre“, erzählt sie. Nachts arbeiten oder wieder an der Schenke stehen – für sie unmöglich, nachdem die Kneipe schloss. Professionelle Hilfe hat sie nie gesucht, „ich habe versucht, das alleine mit mir auszumachen. Ich dachte, ich schaffe das.“ (mz)