Halle Halle: Heimlicher Star in Halles Oper
Halle (Saale)/MZ. - Sie hätte ins Rampenlicht gehört! Ja, sie hätte der Star des Abends sein können - als Halle kürzlich seine Oper feierte - und deren Wiedergeburt vor 60 Jahren. Doch keiner der Theater-Chefs hatte wohl an Ingeborg Bittner-Lessig gedacht, und so saß die einzige noch in Halle lebende Akteurin jenes denkwürdigen Tags nur im Publikum: mit Kloß im Hals und mit den Tränen kämpfend, als sie Beethovens "Fidelio" hörte - wie bei der Theater-Eröffnung 1886 und bei der Wiedereröffnung 1951, als sie selbst als junge Sopranistin mit auf dieser Bühne stand.
Die heute 87-Jährige ist ausgebildete Opernsängerin. Mehr als 30 Jahre stand die gebürtige Leipzigerin in Halle auf den Brettern, die für sie die musikalische Welt bedeuteten. Oft war ihr Sopran im Chor zu hören, nicht selten aber auch in kleineren und größeren Soli. An ihren ersten gesanglichen Einzelauftritt 1949 kann sie sich erinnern, als sei es gestern gewesen: In Humperdincks "Hänsel und Gretel" sang sie das Tau-Männchen, das die schlafenden Kinder weckt. Am Pult im Thalia-Theater - die Kriegswunden im Opernhaus waren noch nicht beseitigt - stand als junger hallescher Dirigent der heute weltbekannte Kurt Masur.
Als Star hat sich Ingeborg Bittner-Lessig nie gefühlt, denn Kult liegt ihr nicht. Zum Ensemble zu gehören, das war ihr wichtig. Gute Arbeit abzuliefern nach einem Studium, das sie abends absolviert hatte, weil sie tagsüber das Geld für die private Opernschule auf einer Sekretärinnen-Stelle verdienen musste - das empfand sie als selbstverständlich. Dabei standen, so erzählt sie lächelnd, gerade in den Anfangsjahren "mein hoher Sopran und der große Idealismus" im umgekehrten Verhältnis zur Gage. 200 Mark gab es im ersten Jahr monatlich, im zweiten und dritten jeweils 50 Mark mehr. Ernster werdend, fügt sie die eigene Erfahrung hinzu, dass Kunst nicht brotlos sein darf. "Man hat in den Jahren nach dem Krieg verdammt gut gelernt, mit Geld umzugehen." Erst zwei und vier Jahre alt waren die Kinder, als ihr Mann starb.
"Ich bin dankbar für das, was ich erleben durfte", sagt Ingeborg Bittner-Lessig - und die Worte klingen weder demütig noch pathetisch, sondern: schlicht und selbstverständlich. Auf viel Schönes kann die Sängerin zurückblicken. Nie vergessen wird sie die Aufführung von "Ariodante" im Mai 1977 in Wiesbaden. "Herrlicher Händel aus Halle", so titelte das dortige Tageblatt. Der Sopranistin klingt der sage und schreibe 30 Minuten währende frenetische Beifall noch immer im Ohr. Erinnernswert ebenso: der Auftritt in Helsinki mit Händels "Deidamia". Auch davon hat sie noch alle Zeitungsausschnitte, obwohl sie die finnische Sprache nicht beherrscht.
Die Liebe zur klassischen Musik ist bei Ingeborg Bittner-Lessig geblieben, nachdem sie 1984 zum letzten Mal auf der Opernbühne gestanden hatte. Konzerte im Leipziger Gewandhaus sind ihr ein Genuss und zuweilen auch Aufführungen an Halles Musiktheater, "Lucrezia Borgia" zum Beispiel. Sie genießt die Aufführungen und doch: Ein falscher Ton entgeht ihr nicht. "Ich habe ganz scharfe Ohren", sagt sie lächelnd.
Vortrag zur Theatergeschichte kommenden Donnerstag, 18 Uhr, im Stadtmuseum, Gr. Märkerstr. 10. Margrit Lenk spricht über deutsch-jüdische Künstler in Halle.