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Halle Halle: «Frau Poli Reil» hat Geburtstag

Von PETER GODAZGAR 05.11.2010, 20:09

Halle (Saale)/MZ. - Schon drei Jahre später wurde zum ersten Mal angebaut; die Zahl der Arztpraxen wuchs auf 14.

Helga Schwarzkopf gehörte fast 30 Jahre zum Team, das zu DDR-Zeiten noch Kollektiv hieß. Wenn die am Sonnabend 70 Jahre alte Fachärztin für Allgemeinmedizin einen Arzttermin in ihrer ehemaligen Arbeitsstelle wahrnimmt, dann dauert das stets etwas länger, weil sie dort so viele bekannte Gesichter trifft.

Helga Schwarzkopf trat ihren Dienst 1964 in der Poli-Nord an; damals noch als Assistenzärztin. Unter jungen Ärzten sei die Klinik ein Geheimtipp gewesen, sagt sie. Und auch wenn es nicht so aussieht, wenn man die historischen Fotos aus heutiger Sicht anschaut: Unabhängig vom allgegenwärtigen Sprelacart-Charme war das Haus modern.

Die elend langen Wartezeiten waren freilich keine Besonderheit der Poli-Nord, sondern gang und gäbe. Behandeln lassen konnte man sich dort seinerzeit aber nur, wenn man auch im Einzugsbereich der Klinik wohnte.

Helga Schwarzkopf erinnert sich auch noch gut an den wohl dramatischsten Zwischenfall der Klinikgeschichte: Im August 1994 nämlich wurde mit einer filmreifen Aktion ein Untersuchungshäftling von Kumpanen befreit. Auch Helga Schwarzkopf dachte zunächst an Filmarbeiten. Verletzt wurde damals niemand (und der Entflohene drei Jahre später in Athen gefasst).

Erst seit 1999 trägt die Poli-Nord den Namen "Poli Reil", ganz offiziell heißt sie "Johann Christian Reil gGmbH - Poli Reil". Und sie ist seit Jahr und Tag die einzige verbliebene Poliklinik in Sachsen-Anhalt. Das Diakoniewerk Halle übernahm das Haus im Jahr 1991 - und wirbt mit dem Motto "Alles unter einem Dach - vieles an einem Tag".

Tatsächlich gehörte das Sterben der Polikliniken zu den am meisten bedauerten Entwicklungen der Nachwendezeit. Josephine Reeg sieht einen "ganz banalen Grund" für das Verschwinden der Polikliniken. Die Allgemeinmedizinerin, die in der Poli Reil auch als Ärztesprecherin fungiert, macht keineswegs eine politische Entscheidung verantwortlich. Vielmehr hätten viele Ärzte nach 1989 endlich ihr eigener Herr sein wollen und den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt. "Diese Entwicklung hat zum Ausbluten der Polikliniken beigetragen." Einen Schritt zurück zur Philosophie Poliklinik sieht Josephine Reeg im Aufkommen der so genannten Medizinischen Versorgungszentren.

So groß wie zu Spitzenzeiten ist die Poli Reil freilich längst nicht mehr: In den 80er Jahren waren in der Poliklinik 60 Ärzte und 20 Zahnmediziner tätig. In der Breite des Angebots sieht Ärztin Reeg indes immer noch einen "Riesenvorteil": Aktuell arbeiten 20 Ärzte in 14 Fachrichtungen in der Poli Reil.

Für den Vorstandsvorsitzenden des Diakoniewerks Halle, Christoph Radbruch, ist die Poli Reil ein "Erfolgsmodell". Das Haus schreibt schwarze Zahlen. Ärztesprecherin Reeg ergänzt, ihre Kollegen stünden nicht so stark unter finanziellem Druck. Zwischen den Praxen herrsche "keine Konkurrenz im eigentlichen Sinn": "Wir müssen uns die Patienten nicht gegenseitig wegschnappen."

Mit der korrekten Adresse tun sich manche dennoch schwer. Die Handlungsbevollmächtigte der Poli Reil, Simona Hohlstein, hat jahrelang kuriose Adressierungen gesammelt. Darunter auch immer wieder der schöne Zusatz "z. Hd. Frau Poli Reil".

Na dann: Glückwunsch zum 60., Frau Poli Reil!