Ungewöhnliche Biografie Halle: Frank Mylius singt als Tenor in Gaststätten
Halle (Saale) - Der kleine Mann kommt ohne großen Auftritt aus. Frank Mylius, dem seine Mutter einst den zweiten Vornamen Chaim gab, schwingt vielleicht noch mal den Schal nach hinten und mit ein paar sanften Räusperern macht er die Kehle frei.
Dann schmettert er los, als weite sich der leicht verrauchte Gaststättensaal zum legendären Teatro alla Scala. Frank Mylius, die Augen geschlossen und die Hand locker in Herzhöhe auf der Brust, singt „Lamento di Federico“ und „In einem fernen Land“ aus Lohengrin.
Ganz still wird es im Raum, der Zigarettenrauch hängt wie staunend in der Luft. Selbst das Gläserklirren ist verstummt.
Applaus und ungläubige Blicke
Frank Mylius kennt diese Reaktionen inzwischen. Er kennt auch den Applaus am Ende, die ungläubigen Blicke, die Schulterklopfer von völlig Fremden und die zweifelnd wackelnden Köpfe der Leute, die zu ihm treten: „Wo hast du denn das gelernt?“
Gar nicht, müsste Mylius dann sagen, oder jedenfalls nicht richtig. Das ist ja eigentlich auch der Grund dafür, warum der 50-jährige Hallenser manchmal in Gaststätten auftritt, einfach so, weil er gerade Lust darauf hat. Oder auf Hochzeitsfeiern und zu Ausstellungseröffnungen. Nicht aber im Opernhaus.
„Ich habe als Kind begeistert gesungen und sogar beim Wettbewerb der jungen Talente einen Preis bekommen“, erzählt er, „aber mit 14 kam der Stimmbruch und es ging einfach gar nichts mehr.“
Mit seiner Stimme verliert der einzige Sohn von Karin und Klaus Mylius seine große Hoffnung, eines Tages als Sänger Karriere zu machen. Es ist ein Verlust, der in seinem Falle mehr bedeutet als eine große Enttäuschung. Der Teenager Mylius verliert sich selbst. Und vor allem verliert er die Aussicht, den Ansprüchen seiner Eltern entkommen zu können.
Als Jude in der DDR
Die sind überall, immer. Denn die Familie Mylius ist Ende der 70er Jahre nicht irgendeine in Halle. Mylius’ sind bekennende Juden, Karin Mylius ist seit dem Ende der 60er Jahre die Chefin der Jüdischen Gemeinde in Halle. Keine unumstrittene Person in ihrer Dominanz, vor allem aber ein Frau mit einer dunklen Seite, wie sich viel später herausstellen wird.
Vater Klaus hingegen lehrt als Professor Indologie an der halleschen Universität. Er ist ein Büchernarr und -sammler, der nebenher für die Staatssicherheit spitzelt. Sogar in der eigenen Familie, wie Sohn Frank Jahre später beim Studium seiner eigenen Stasi-Akte feststellen wird. „Sie waren beide krank, auf ihre Art“, sagt Frank Mylius, „aber sie sind meine Eltern.“
Er rebelliert damals, bäumt sich auf gegen den Verlust des Liebsten, was er hat: die Musik. Diesen und jenen Mist gebaut habe er, erinnert sich Frank Mylius heute. Mist, der damals von oben glattgebügelt wurde, weil er Staatsinteressen berührte.
Mist, der heute aber - Frank Mylius, eben noch ein entspannter Plauderer, wird für einen Augenblick ganz biestig - von „Leuten wieder ausgegraben und ins Internet gestellt wird“.
Jedes Gerichtsurteil wäre verjährt. Auf seinen Jugendsünden aber reiten Leute bis heute herum. Mylius versteht es nicht und er versteht es doch. Er, der nur davon träumte, singen zu dürfen, musste immer etwas Besonderes sein. Über ihre Kontakte zum Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi, Vater von Gregor Gysi, verschafft Karin Mylius ihrem Sohn deshalb einen Austausch-Studienplatz in Budapest.
Dieses düstere Geheimnis hatte die Mutter von Frank Mylius
Der Junge, der eigentlich Fernsehmechaniker werden möchte, soll dort eine Ausbildung zum jüdischen Kantor machen. „Das ist der Vorbeter in der Synagoge, der muss nicht singen können“, schmunzelt er in Erinnerung an das damalige Arzt-Attest. Kehlkopf zu weit oben, Stimmbänder zu dick. Passt nicht zusammen. „Singen wird er damit nicht können“, sagt der Doktor.
Als Mylius vom Studium zurückkehrt, ist seine Mutter gestürzt. Nicht Tochter von Holocaust-Überlebenden ist sie, sondern die eines Polizeibeamten. In einer Art Über-Identifikation mit dem Schicksal des jüdischen Volkes, hat der Historiker Frank Hirschinger später festgestellt, habe es die ursprünglich aus Münster stammende gelernte Stenotypistin „durch die Unterstützung des MfS und staatlicher Stellen“ bis an die Spitze der Jüdischen Gemeinde geschafft.
Dort regiert Karin Mylius mit Machtwillen und Beharrungsvermögen, aber auch mit Einsatz, wie sich Sohn Frank erinnert. „Sie ist mit dem Matzebrot jedes Wochenende zu den Leuten gefahren, die nicht selbst kommen konnten.“
Mit dem Sturz der nun vom DDR-Staat Ungeliebten stürzt auch Frank Mylius. Für einen Kantor mit seinem Namen ist kein Platz mehr in der kleinen DDR. Staatschef Honecker bemüht sich gerade, über eine Annäherung an die jüdische Gemeinde in den USA eine Einladung zu einem Staatsbesuch nach Washington zu erhalten. Enthüllungen über falsche Juden kann die DDR da nicht gebrauchen.
Job in einer Gaststätte
Frank Mylius landet als Ungelernter in einem Konsum, später arbeitet er in einer Gaststätte. „Die DDR war für mich erledigt, da gab es keine Zukunft“, sagt er heute. Er stellt einen Ausreiseantrag, der zwei Jahre lang nicht bearbeitet wird. Das System straft die, die es enttäuscht haben. Frank Mylius ist in Gedanken längst woanders. „Im Sommer ’89 kam dann die Meldung von der Grenzöffnung in Ungarn, also bin ich da runter und rüber, ab in den Westen.“
Musik spielt für ihn in dieser bewegten Zeit dieselbe Rolle wie für viele. „Ich habe Elvis gehört, Popmusik, alles mögliche.“ Oper? Klassik? Nein, nie. Und gesungen habe er schon gar nicht, sagt Frank Mylius. „Ich konnte doch nicht.“
Stattdessen wollte der Jude aus Halle - Mylius’ Mutter war 1961 zum Judentum übergetreten und sowohl er als auch seine Schwester wurden orthodox erzogen - die Welt sehen. Er geht nach Amerika, findet dort eine Liebe, lebt in Kansas City und macht gute Geschäfte als antiquarischer Buchhändler.
Ausgerechnet. Als hätten die Bücher des Vaters, diese alten Schinken mit der rätselhaften Anziehungskraft, eine geheime Langzeitwirkung. „Dabei haben die mich mit sechs Jahren gar nicht interessiert.“ Was sein Vater dazu sagen würde, weiß Frank Mylius nicht. Seit der Stasi-Geschichte haben sie nicht mehr miteinander geredet. „Es gab nichts zu sagen.“
Mylius ist auch so glücklich gewesen, drüben, im Heimatland seiner Frau. Die Erstausgabe eines englischen Kinderbuches - Beatrix Potters „Die Geschichte von Peter Hase“ - ergattert er auf Ebay für 27 Dollar. „Ein großes Auktionshaus hat sie mir für 42.000 Dollar abgenommen.“ Das Land der unendlichen Möglichkeiten. Wo der Jude aus Halle nichts Besonderes ist. Nur ein weiterer Mensch, der den amerikanischen Traum lebt. Doch nicht nur wegen solcher Verheißungen liebt Mylius Amerika. Es ist auch die Weite und das Gefühl, dass jeder alles sein kann, was er sein möchte. „Freiheit“, sagt Frank Mylius, „ist das Wichtigste.“
Er hat sie damals gefühlt, aber nicht gehabt, das weiß er heute. Zu eng ist das Leben in einer Ehe, „in der ich das Geld ranschaffte und jemand anders es ausgab.“ Frank Mylius, ein kleiner, kompakter Mensch mit großen, zuweilen ganz traurigen Augen, erinnert sich an Jahre inmitten von schlechter Laune, Gezeter und Zorn.
Gesang als Ventil
„Eines Tages“, sagt er, „habe ich dann in einer besonders angespannten Situation angefangen, zu singen.“ Ein Volkslied ist es, „Horch, was kommt von draußen rein“. Die Melodie jubelt aus ihm heraus, als hätte sie dreißig Jahre nur auf diesen Moment gewartet.
Frank Mylius spürt wieder diese Resonanz in sich selbst, die er zuletzt als Junge fühlte. Das Herz im Hals - und wie es vibriert! Das Beste am Singen sei aber gewesen, sagt er, „dass meine Frau es nicht leiden konnte - sie ist gegangen“.
Mylius hat danach nicht mehr aufgehört zu singen. Bis heute nicht. Anfangs, inzwischen mit Hilfe der Jüdischen Synagogengemeinde nach Halle zurückgekehrt, hier aber schwer erkrankt, übt er die alte, neue Stimme nur daheim vorm Spiegel.
„Ich hatte unheimliche Angst, vor Menschen aufzutreten.“ Angst, gegen die es nur ein Mittel gibt: „Ich habe mir gesagt, Du musst raus und vor Publikum singen.“ Eine Kur, öffentlich, mit Adrenalin und Aufregung. Die harte Tour, sagt der Mann, der mittlerweile von Halle aus alten Büchern nachspürt und sie handelt. „Deshalb habe ich angefangen, den Leuten einfach etwas vorzusingen.“
Und es hat Spaß gemacht, die Gesichter zu sehen, wenn plötzlich Verdi oder Sinatra erklingen, wo sonst Disco, Blues und Rock zu Hause sind. Die Leute mögen das. Sie klatschen. Sie freuen sich. Der Sänger liebt es. „In Halle bin ich ja schon ein bunter Hund“, sagt er.
Lampenfieber, denkt Frank Mylius, entstehe nur, „wenn man nicht sicher ist“. Das Mittel dagegen: „So gut sein, dass man sich seiner Sache sicher ist.“
Mylius ist es längst. All die Jahre, in denen er wie stumm war, sind vergessen. Mylius ist heute Kantor der Synagogengemeinde, er hat einen eigenen Youtube-Kanal im Internet, er packt die Bluetooth-Box mit den Orchestersätzen seiner Lieder in Gaststätten aus und wird für Familienfeiern und für Hochzeiten von Leuten gebucht, zu denen sich sein außerordentliches Talent herumgesprochen hat.
Aus Amsterdam kam neulich eine Einladung, und zuletzt rief sogar die ARD an, die ihn gern in einer Dokumentation über Autodidakten hätte, die ihrem Weg aus eigener Kraft folgen. Frank Mylius weiß noch nicht, ob er da mitmachen will.
Sein Traum ist schon in Erfüllung gegangen, auch ohne die großen Bühnen, das Fernsehen, das Opernhaus. Oder vielleicht gerade deshalb. Singen, das wisse er heute, sagt Frank Mylius, bedeute nicht Ruhm oder Geld, nicht mal die Aussicht auf Applaus. Sondern einfach die Freiheit, es zu tun. (mz)