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Fünf Jahre nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Halle erhält Morddrohungen

Im Interview mit der MZ spricht Max Privorozki über den Terror am 9. Oktober 2019 in Halle und seine Folgen.

Von Dirk Skrzypczak Aktualisiert: 08.10.2024, 06:58
Max Privorozki war am 9. Oktober 2019 in der Synagoge, als der Terror begann.
Max Privorozki war am 9. Oktober 2019 in der Synagoge, als der Terror begann. (Foto: Jan Woitas/dpa)

Halle (Saale)/MZ - Der 9. Oktober 2019 hat sich in das Bewusstsein der Stadt Halle gebrannt. Getrieben von blindem Judenhass wollte ein rechtsextremer Attentäter in der Synagoge in der Humboldtstraße ein Blutbad anrichten. Als sein Terrorplan scheiterte, tötete er Jana Lange vor der Synagoge und Kevin Schwarze in der nahe gelegenen Ludwig-Wucherer-Straße im Kiez-Döner. Max Privorozki befand sich zur Anschlagszeit mit 50 Juden in der Synagoge, um den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur zu feiern. Wie hat er das Geschehen verarbeitet? Dirk Skrzypczak hat mit dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde gesprochen.

Kurz vor dem Jahrestag ist es schwierig, einen Termin mit Ihnen zu bekommen. Haben Sie die Presseanfragen gezählt, die auf Sie einprasseln?

Max Privorozki: Nein, aber es sind schon sehr viele gewesen. Ich versuche, mir für jeden Zeit zu nehmen. Aber das ist nicht leicht, denn meine normale Arbeit muss ja auch weitergehen.

Spielt die Erinnerung und das öffentliche Interesse an das Attentat nur rund um den 9. Oktober eine Rolle? Wie empfinden Sie das?

Da haben Sie eine gute Frage gestellt. Zum Jahrestag ist das Medienecho besonders groß. Unsere Gemeindearbeit ist natürlich wesentlich vielschichtiger. Da wird wenig darüber berichtet. Aber das liegt in der Natur der Dinge.

Fünf Jahre ist das Attentat her. Wie hat sich das Leben für die Gemeinde seitdem verändert?

Es bleibt kaum Zeit zum Luftholen, weil auf eine Krise die nächste folgt. Erst hatten wir wie alle mit Corona zu kämpfen. Dann kam der Krieg in der Ukraine, der nicht vorbei ist. Seit einem Jahr haben wir auch den Konflikt in Israel. Keiner weiß, wann die Gewalt endet. Es gibt nur wenige Ereignisse, die mich optimistisch stimmen. Dazu zählt aber die Eröffnung der beiden Synagogen in Dessau und Magdeburg. Man muss aus positiven Ereignissen Kraft ziehen.

Sie sprechen die innere Kraft an. Einige Opfer von damals leiden bis heute unter Angstzuständen, weil sie das Geschehen vor fünf Jahren nicht verarbeiten können. Wie geht es Ihnen?

Da muss ich differenzieren. Ich bin froh, dass ich viel zu tun habe. Da bleibt mir keine Zeit, dass ich mich selbst analysiere. Vielleicht ist das auch eine Schutzfunktion, damit ich mich nicht ständig den Erinnerungen an den Anschlag stellen muss. Ein Psychologe könnte das sicher sagen. Was bei mir aber immer präsent ist, sind die Gedanken an Jana und Kevin. Wir kannten beide damals nicht. Aber der Täter hat sie erschossen, weil er nicht in die Synagoge eindringen konnte. Ich glaube, dass der Attentäter die ganze Welt hasst. Ein Gefühl wie Liebe wird bei ihm nicht existieren. Für uns ist Mitgefühl aber lebensnotwendig.

Nach dem Anschlag hat die jüdische Gemeinde eine breite Solidarität erfahren. Wie ist es seit dem 7. Oktober 2023, als die Hamas Israel überfiel – und die Region in einen Krieg stürzte?

Die Reaktionen sind anders, das muss ich leider sagen. Dass Juden die Opfer des Überfalls vor einem Jahr waren, tritt leider in vielen Debatten und auf Demonstrationen in den Hintergrund, die sich auf die Seite der Palästinenser stellen. Wir erleben blanken Antisemitismus, auch in Halle. Ich erhalte seit dem 7. Oktober 2023 Morddrohungen. Was ich kritisch sehe: Wenn Nazis die Juden anfeinden, gibt es einen Aufschrei der Empörung. Wenn auf Pro-Palästina-Demos antisemitisch gehetzt wird, stört das nicht. Das zeigt mir, dass Judenhass auch in Deutschland noch weit verbreitet ist.

MZ-Serie: Fünf Jahre nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle

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Wie gehen Sie mit den Drohungen um?

Ich informiere die Polizei. Dort wird ermittelt. Ich muss nicht das Ergebnis der Ermittlungen kennen. Wichtig ist, dass Straftaten verfolgt werden. Wir arbeiten sehr gut mit der Polizei zusammen.

Apropos Polizei: Die Synagoge ist wie eine Festung abgeriegelt. Wie schlimm ist es, dass man seinen Glauben nur frei ausleben kann, weil Polizisten das Gebetshaus bewachen?

Vor fünf Jahren war die Polizei nicht da. Wir wissen, was passiert ist. Normal ist es nicht, dass wir derart beschützt werden müssen. Und ein Dauerzustand kann es nicht sein. Aber ich sehe derzeit keine Alternative. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es aber nie. Für keinen von uns. Das hat der Anschlag gezeigt.

Hat die Zivilgesellschaft in Halle etwas aus dem Attentat gelernt?

Ich habe es schon gesagt. Da muss man differenzieren. Geht es um den 9. Oktober, ist die Solidarität mit der Gemeinde und den Opfern groß. Aber keiner spricht darüber, dass schon am 4. Oktober 2019 ein mit einem Messer bewaffneter Täter einen Anschlag auf eine Synagoge in Berlin plante. Die meisten werden das gar nicht kennen. Gegen Hass muss man immer vorgehen, nicht nur mit Symbolpolitik an einem Tag. Und wir müssen uns vor Populisten in acht nehmen. Ich bin beispielsweise überzeugt, dass die Mehrheit der Menschen, die AfD wählen, nicht gefährlich ist. Aber gerade von der AfD wissen wir, dass Judenhass bei ihr verankert ist – auch wenn sie das Gegenteil erzählt.

Der 9. Oktober steht im Zeichen des Gedenkens. Auch der Bundespräsident kommt. Was plant die Gemeinde?

Wir werden 12.03 Uhr, als das Attentat begann, im Hof der Synagoge mit einer Schweigeminute an Jana, Kevin und alle Betroffenen erinnern. Dort wird auch der Ministerpräsident reden. Viel Platz ist nicht, deshalb können nur wenige Personen auf das Gelände der Synagoge. Außerdem gelten strenge Sicherheitsvorkehrungen. Wer will, kann Blumen und Kerzen an der Gedenktafel an der Mauer ablegen oder aufstellen. Später wird eine neue Torarolle übergeben. Ein Jahr wurde an ihr geschrieben.