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Unterricht am Küchentisch Freilerner in Halle: Dieses Mädchen soll nie mehr zur Schule gehen

Von Julius Lukas 19.09.2018, 08:00
Unendliche Weiten: Stefanie Conrad (rechts) erkundet mit ihrer Tochter ein Weltraumbuch. „Das findet sie gerade total spannend.“
Unendliche Weiten: Stefanie Conrad (rechts) erkundet mit ihrer Tochter ein Weltraumbuch. „Das findet sie gerade total spannend.“ Julius Lukas

Halle (Saale) - Ein Montag im September. Es ist kurz nach zehn Uhr. Eigentlich müsste Maja in der Schule sein. Eigentlich müsste die Achtjährige mit ihren Mitschülern im Klassenraum sitzen. Eigentlich.

Doch Maja ist nicht in ihrer Schule. In dem Backsteinbau im Osten Halles war sie zuletzt vor gut einem Jahr. Sie sitzt stattdessen zu Hause am Küchentisch, vor sich mehrere Schnittmuster. „Ich will Sachen für meine Puppen nähen“, sagt das Mädchen. Stefanie Conrad, Majas Mutter, steht neben ihr: „Ihre Puppe ist gerade ihr wichtigstes Projekt“, sagt sie.

Maja heißt nicht Maja. Den Namen ihrer Tochter will Stefanie Conrad nicht öffentlich nennen. Ihren eigenen schon. „Für mich ist es Zeit, Fehlentwicklungen im Bildungssystem anzusprechen und zu zeigen, wie katastrophal dort mit Menschen umgegangen wird.“ Denn diesen katastrophalen Umgang habe sie in den letzten Monaten zu Genüge erfahren.

Für die Behörden ist Maja eine Schulverweigerin. Im Oktober 2017 entschied das Mädchen, nicht mehr in den Unterricht zu gehen. Damals besuchte sie die zweite Klasse. „Sie hat es in der Schule einfach nicht mehr ausgehalten“, sagt ihre Mutter. Zuvor hatte Maja häufig Bauchschmerzen. Sie bekam Verspannungen im Halsbereich, das Schlucken fiel ihr schwer. Manchmal waren die Anfälle so schlimm, dass sie Angst hatte, zu ersticken.

Mädchen ist Freilernerin und wird zu Hause unterrichtet: Aggressionen in der Schule?

Auslöser sind für Stefanie Conrad die Bedingungen in der Schule. Es habe in der Klasse einen traumatisierenden Vorfall gegeben. Hinzu kamen hohe Anforderungen, ein schwieriges Lernumfeld und Aggressionen unter den Schülern. „In der Klasse war es immer extrem laut, die Lehrerin hat viel Druck ausgeübt und auf dem Schulhof wurden die kleinen von den größeren Kindern verprügelt“, sagt Conrad.

Als Maja der Schulleiterin das bei einem Gespräch so sagte, habe die gemeint: Wenn viele Kinder zusammen sind, wird es eben laut. Druck gehört zum Leben dazu und ab und an gehe es eben auch mal unter Kinder etwas rauer zu. „Da hat meine Tochter beschlossen, dass sie in solch einer Schule nicht mehr lernen möchte.“

Stefanie Conrad hat sich an den Tisch gesetzt, an dem Maja an der Puppenmode bastelt. An der Wand hängen Bratpfannen, darunter liegen Bücher, in denen das Weltall, physikalische Phänomene und chemische Experimente erklärt werden. Die Küche ist das Zentrum des Familienlebens. Vier Kinder haben Stefanie Conrad und ihr Mann. Die Küche ist mittlerweile aber auch Unterrichtsraum. Wobei Unterricht nicht ganz präzise ist. Maja ist, so sagt es ihre Mutter, eine Freilernerin.

Dahinter steckt ein Bildungskonzept, das radikal mit der klassischen Vorstellung von Schule bricht. Stundenpläne und Klassenziele gibt es nicht. „Es kommt einzig darauf an, was die Kinder machen wollen, wofür sie sich gerade interessieren“, sagt Conrad.

Die Eltern geben nichts vor, sie gehen den Weg ihrer Kinder mit, machen Angebote und sind da, wenn Hilfe benötigt wird. „Das kann auch dazu führen, dass mal nur Computer spielen angesagt ist oder sie gar nichts machen wollen.“ Aber gerade dann brauche es Vertrauen. „Denn Kinder sind neugierig und wollen etwas lernen - nur eben nicht immer so, wie die Erwachsenen sich das vorstellen.“

Als ihre Tochter sich weigerte, in die Schule zu gehen, zwingen ihre Eltern sie nicht. „Wir haben unsere Kinder zu freien, autonomen Menschen erzogen und begleitet“, sagt Conrad. So werde es ja auch in „Bildung elementar“ gefordert, dem offiziellen pädagogischen Programm, nach dem alle Kitas in Sachsen-Anhalt arbeiten. „Und dann geht das Schultor auf und plötzlich ist alles anders.“ Dort heiße es dann: Du sollst still sein. Du darfst nicht entscheiden. Du machst, was ich sage. Die Selbstbestimmtheit werde mit der Zuckertüte abgegeben.

Maja hat genug ausgeschnitten, geht in den Nachbarraum. Ihre Mutter redet sich derweil in Rage. Sie spricht fast ohne Pause. Aufregung, Wut und Fassungslosigkeit wechseln sich ab. Auch mit ihren älteren beiden Kindern habe sie schon ähnliche Erfahrungen wie mit Maja gemacht.

Katastrophale Stimmung an den Schulen: Mutter aus Halle unterrichtet ihre Tochter zu Hause

„Die Stimmung an den Schulen ist katastrophal“, sagt die Mutter. Die Lehrer seien dauerüberfordert - mit der Inklusion behinderter und verhaltensauffälliger Kinder. Und mit der Integration von Flüchtlingen. Den Druck geben die Pädagogen weiter. Das Gewaltpotenzial sei oft hoch.

Hinzu kämen, so Stefanie Conrad, Mobbing sowie an weiterführenden Schulen Rassismus und Drogen. „Will ich meine Kinder schützen, was ja die Aufgabe von Eltern ist, so kann ich sie eigentlich nicht in die Schule schicken“, sagt Conrad.

Die Schule, so sieht es Majas Familie, ist wie ein marodes Gebäude. Doch anstatt sich um das einsturzgefährdete Dach oder den Wasserrohrbruch zu kümmern, konzentriert sich die Schulverwaltung auf die eine quietschende Tür - in diesem Fall ist das Maja. Das mag paradox klingen, doch es ist auch verständlich: Dachdecker und Klempner fehlen. Ein Kännchen Öl zur Türbehandlung findet man gerade so noch.

Obwohl - um im Bild zu bleiben - der quietschenden Tür nicht mit Schmiermittel begegnet wird, sondern mit dem Vorschlaghammer. So zumindest empfinden es die Conrads. „Als unsere Tochter gesagt hat, dass sie nicht mehr in die Schule gehen will, haben wir sofort bei allen Stellen probiert, Hilfe zu bekommen.“

Ihnen gehe es nicht darum, die Schulpflicht auszuhebeln. Sie sind an einer Einzelfalllösung interessiert, die das Schulgesetz auch explizit vorsieht. „Wir wollen ja eigentlich nur von dieser Schulgebäudepflicht befreit werden“, sagt Stefanie Conrad.

Sie stellen einen Antrag auf Heimunterricht, wie ihn Kinder mit gesundheitlichen Einschränkungen bekommen können. Das Schulamt lehnt ab. Sie stellen einen Antrag auf Online-Unterricht, wie ihn die Musiker von Tokio Hotel hatten, da ein normaler Schulbesuch aufgrund kreischender Mädchen für sie nicht mehr möglich war. Der Bescheid vom Schulamt steht noch aus.

„Wir sind ja kein bildungsferner Haushalt, wir wollen, dass unsere Kinder sich Wissen aneignen“, sagt Conrad. Sie kümmere sich den ganzen Tag um ihre Kinder, während ihr Mann als selbstständiger Medienproduzent arbeitet. „Hilfe kam von den Ämtern nie, dafür aber Drohungen“, sagt sie.

Als Schulverweigerin stellt Maja, die Zweitklässlerin, eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit dar. So steht es in den Schreiben, von denen die Conrads viele bekommen. Und ist die öffentliche Sicherheit in Gefahr, handeln die Behörden schnell.

Das Ordnungsamt schickt erste Bußgeldbescheide. Die Conrads bezahlen nicht. Ein Zwangsgeld wird festgesetzt, mit Ersatzhaft gedroht. Selbst die Ausreise wird ihnen nahegelegt. Nächste Woche stehen sie nun wegen der nicht bezahlten Strafen in Halle vor Gericht.

In den Monaten der Auseinandersetzung beginnt Stefanie Conrad sich mit alternativen Bildungsformen zu befassen, auch mit dem Freilernen. Sie stößt auf einen Stammtisch in Leipzig. Dort treffen sich Menschen, die ähnliche Probleme haben. Conrad gründet einen Ableger in Halle. Alle, die kommen, hören immer ein Argument, mit dem die Schulpflicht vertreten wird. Es lautet: Na, wenn das alle machen würden. „Und ich glaube“, sagt Conrad, „die haben wirklich Angst, dass das passiert.“

Familie Conrad kämpft weiter für alternative Lernformen

Die Conrads sind nun umgezogen, leben in einem andere Schulbezirk. Damit ändert sich auch die Grundschule. Ob Maja dort dauerhaft zur Schule geht, ist noch offen. Für alternativen Lernformen wollen die Conrads aber in jedem Fall weiter kämpfen.

„Das Bildungssystem braucht eine Erneuerung“, sagt Stefanie Conrad. „Und vielleicht sind wir ja die Spitze einer Bewegung.“ Im Bildungsministerium sieht man diese Bewegung noch nicht. Auf Nachfrage, wie viele Schulverweigerer-Familien es in Sachsen-Anhalt gibt, heißt es, eine Handvoll Fälle im Jahr. (mz)