Fluchtversuch 1979 Fluchtversuch 1979 in Sorge im Harz: Wie DDR-Grenzsoldaten einen 15-jährigen Hallenser erschossen

Halle (Saale) - Vierzig Jahre ist es her, dass bei einem Fluchtversuch zweier Jugendlicher einer von ihnen sein Leben lassen musste. 15 Jahre war er alt, ein wenig naiv vielleicht, aber voller Hoffnung. 15jährige haben Träume, Sehnsüchte - für Uwe Fleischhauer und Heiko Runge spielten die im Westen. Am 8. Dezember 1979 machten sie sich auf den Weg, dorthin zu gelangen, über die Grenze im Harzort Sorge.
In den Akten der Staatssicherheit, archiviert und aufgearbeitet von der BStU-Außenstelle Halle, sind die Vorgänge rund um die Flucht genauestens dokumentiert: Die Jungs fuhren mit dem Zug nach Nordhausen, von dort mit der Harzquerbahn weiter nach Sorge. Campingbeutel hatten sie dabei, darin ein paar Kleidungsstücke, Konservendosen, ein Radio, Bücher, Essbesteck.
Tod bei Fluchtversuch: Der Zaun stand unter Niedrigspannung und löste einen Alarm aus
Gegen 15 Uhr, zuhause wurden sie da noch nicht einmal vermisst, erreichten die beiden den Wald. Und liefen los in Richtung Westen. Sie erreichten einen Zaun, hängten einen Abschnitt davon aus, liefen weiter und dachten, die Flucht wäre damit erledigt. Was sie nicht wussten: Der Zaun stand unter Niedrigspannung und löste einen Alarm aus, den sie nicht bemerkten. Und was sie auch nicht wussten: Sie bewegten sich im Bereich der 7. Grenzkompanie - die galt als die beste der DDR.
Der Kompaniechef war ein harter Hund - „die bedingungslose Vernichtung aller Grenzverletzer“ hatte er ausgerufen, sein Leitspruch war: „Bei Anruf erfolgt Magazinwechsel“. Soll heißen, ohne Warnschuss oder Anruf hatten die Soldaten sofort zu schießen.
Fluchtversuch: 51 Schüsse fielen, einer davon traf Heiko Runge tödlich
Diese Soldaten nun wurden alarmiert durch die Berührung des Signalzaunes. Das war nichts seltenes, 14 bis 15 mal mussten sie manchmal nachts raus, weil vor allem Tiere Alarm auslösten. An diesem Tag erreichte die Truppe um kurz vor 16 Uhr den zweiten Alarmzaun. Aller 150 Meter stand ein Postenpaar; Angst machte sich breit davor, dass tatsächlich ein Flüchtender zwischen den Bäumen auftaucht. Die Jungs indes hatten die Fahrzeuge gehört, ihnen wurde mulmig.
Sie schlichen gerade an einer Waldschneise entlang, als sie entdeckt wurden. Uwe Fleischhauer warf sich auf den Boden, Heiko Runge rannte zurück. Die Grenzer schossen sofort. 51 Schüsse fielen, einer davon traf Heiko Runge tödlich. Uwe Fleischhauer wurde nicht getroffen, sah auch seinen Freund nicht mehr, hörte aber die Worte eines Grenzers: „Der erlebt Weihnachten sowieso nicht mehr.“ Offiziell erfuhr er vom Tod seines Freundes erst drei Wochen später von seinem Rechtsanwalt.
Tod bei Fluchtversuch: Der Westen dürfe nichts erfahren
Was geschehen war, war eine Katastrophe. Für Heiko Runge natürlich, für seine Familie, für seinen Freund, der ihn zur Flucht ermutigt hatte. Aber auch für das DDR-Regime. Selbst nach seinem Recht durfte auf Jugendliche nicht geschossen werden. Der Westen dürfe nichts erfahren, verkündeten Honecker und Verteidigungsminister Hoffmann. Und so begann eine Vertuschungsaktion ohnegleichen.
Die Kleidung Heiko Runges wurde gleich am nächsten Tag verbrannt. Seine Leiche wurde nach Halle gebracht, der Totenschein gefälscht. Seine Familie erfuhr lediglich, dass der Sohn in der Nähe einer militärischen Einrichtung bei einem Unfall zu Tode gekommen sei. Erst bei der Akteneinsicht in der Bstu-Außenstelle Halle las die Mutter, was tatsächlich passiert war an jenem Dezembertag. Die Akte Runge wurde von den Behörden einen Monat nach dem Vorfall geschlossen.
Todesschützen wurden 1996 zu einem Jahr auf Bewährung nach Jugendstrafrecht verurteilt
Uwe Fleischhauer indes durchlebte in der Nacht der Flucht einen zehnstündigen Verhörmarathon, erst in Wernigerode, dann in Magdeburg. Acht Monate Untersuchungshaft im Roten Ochsen folgten, dann Jugendknast in Dessau. Er hatte die Anweisung, nicht über den Vorfall zu sprechen, überwacht wurde er von Spitzeln.
Unter welchem Druck er aber stand, verrät ein Brief von ihm an seine Eltern, geschrieben noch in der U-Haft. Daran kündigt er an, nicht mehr nach Halle-Neustadt zurückkehren zu wollen. „Es ist wegen Heiko“, schrieb er, „er ist tot, und ich bin an seinem Tod schuld. Ich habe ihn auf dem Gewissen.“ Der Brief erreichte die Eltern nie, er wurde nicht weitergeleitet.
Uwe Fleischhauer erhielt wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall eine Gefängnisstrafe von einem Jahr. Die Todesschützen wurden 1996 in Magdeburg zu einem Jahr auf Bewährung nach Jugendstrafrecht verurteilt, weil nicht ermittelt werden konnte, wer genau den tödlichen Schuss abgegeben hatte. (mz)