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Europas modernster Güterbahnhof Europas modernster Güterbahnhof: Ein Besuch im Stellwerk der Riesenanlage

Von Alexander Schierholz 15.12.2018, 11:00
Flutlicht: Dank modernster LED-Technik herrscht auf Halles neuem Güterbahnhof auch nachts Betrieb.
Flutlicht: Dank modernster LED-Technik herrscht auf Halles neuem Güterbahnhof auch nachts Betrieb. Andreas Stedtler

Halle (Saale) - Das Telefon gibt einen fiependen Ton von sich, Mario Merle spricht mit ruhiger Stimme in den Hörer: „Die Weiche ist verriegelt, du kannst jetzt auf 619 fahren. Meldest dich dann beim Fahrdienstleiter.“ Er legt auf, dreht sich auf seinem Stuhl um und ruft einem Kollegen zu: „Ich fahre den auf 619, der will dann umsetzen auf 625.“

Was für Außenstehende kryptisch klingt, für die Männer im Stellwerk des halleschen Güterbahnhofs ist es Alltag. Der Lokführer eines kleinen gelben Bauzuges draußen in der Gleiswüste nördlich des Hauptbahnhofs weiß jetzt, was er zu tun hat. Montagvormittag, noch ist es ruhig. Nach dem Wochenende läuft der Betrieb erst langsam wieder an. Mehr als Bautrupps für kleinere Nachbesserungen auf das richtige Gleis zu dirigieren, bleibt Mario Merle und seinen Kollegen im Moment nicht zu tun.

Halles Güterbahnhof ist erst im Sommer ans Netz gegangen. Eine Anlage der Superlative - laut Bahn die modernste in Europa und eine der zehn größten in Deutschland, ausgelegt für bis zu 2.400 Waggons täglich. Fachleute sprechen nicht von einem Bahnhof, sondern von einer Zugbildungsanlage.

Güterbahnhof: Von Halle nach Italien oder Polen

Denn hier werden nicht etwa Güterwagen be- oder entladen. Vielmehr werden rund um die Uhr ankommende Güterzüge auseinandergekuppelt und neu zusammengestellt, je nachdem welches Fahrtziel die Fracht hat. Ein Zug bringt beispielsweise Waggons von der Küste nach Halle. Von dort rollen einige Wagen in anderen Zügen weiter in Richtung Italien, andere gen Polen. Halle soll auf der Schiene der neue Umschlagplatz zwischen den Seehäfen sowie Süd- und Osteuropa werden. Eine wichtige Güterzugstrecke, von Norddeutschland quer durch die Altmark über Halle in den Süden, wird daher gerade ausgebaut.

Logistiker nennen diese Art des Transports Einzelwagensystem. Häufig wechseln Güterwaggons dabei auf ihrer langen Reise gleich mehrfach den Zug. Das ist aufwendig, dennoch wird rund die Hälfte aller Waren, die in Europa per Schiene verschickt werden, auf diese Weise transportiert. Eine sinnvolle Alternative dazu gibt es bislang nicht. Zwar sind auch sogenannte Ganzzüge unterwegs, die nicht geteilt werden müssen. Doch diese eignen sich vor allem für Massengüter wie Kohle, Kies, Öl oder Autoteile.

Bahn nutzt die Schwerkraft

Bei der Zugbildung macht sich die Bahn das Prinzip der Schwerkraft zunutze: Ein oder mehrere Waggons, die für denselben Zug bestimmt sind, werden von einer Rangierlok auf einen kleinen Hügel geschoben, den Ablaufberg. Dort fächert sich das Gleis über mehrere Weichen in insgesamt 36 sogenannte Richtungsgleise auf - in jedem wird ein neuer Güterzug gebildet. Oben angekommen, rollen die Waggons von selbst auf das richtige Gleis, zu „ihrem“ Zug.

Möglich macht das eine schmale gelbe Säule, die jeder Wagen beim Hinabrollen passiert. In ihr steckt modernste Technik: Ein Scanner liest einen Zettel am Waggon aus. Herkunfts- und Zielort, Ladung und Gewicht - aus diesen Daten wird binnen Sekunden errechnet, auf welches Gleis der Wagen muss, wie stark er von automatischen Bremsanlagen im Gleisbett gebremst werden muss. Und die Weichen stellt der Rechner auch gleich ein. Rollt ein Waggon dennoch zu früh aus, tritt eine Förderanlage in Aktion: Eine Art Förderband zwischen den Schienen zieht oder schiebt den Wagen weiter.

Das Abrollen macht Lärm. Bremsen, die kreischen. Metall, das auf Metall schlägt, wenn ein Waggon auf einen anderen trifft. Die Bahn hat daher entlang des Bahnhofs und der Zufahrtsstrecken mehrere Kilometer Lärmschutzwände gebaut. 100 Haushalte haben Anspruch auf Schallschutzfenster und Lüfter. Beschwerden sind bisher aber noch nicht bekannt geworden.

Trotz der automatischen Steuerung: Ganz ohne Menschen wie Mario Merle geht es nicht. Merle, 46, und sein Kollege Uwe Görlich, 55, sind sogenannte Ablaufwärter. Eine Schicht im Stellwerk teilen sie sich mit zwei Disponenten und zwei Fahrdienstleitern. Sie alle überwachen den Betrieb auf großen Bildschirmen. Merle und Görlich sind dabei speziell für den Ablaufberg zuständig, also für die Teilung und Zusammenstellung der Züge.

Im Stellwerk herrscht konzentrierte Ruhe, unterbrochen von gelegentlichen Telefonaten. Haben die beiden auch einen ruhigen Job? Schließlich gibt der Rechner ja den Weg jedes einzelnen Waggons vor. Trotzdem sagen beide: „Langweilig wird es nie.“ So müssen sie auch ein Auge haben auf Mitarbeiter, die draußen in den Gleisen die vom Ablaufberg gerollten Wagen zusammenkuppeln. Das passiert noch nicht automatisch, sondern in Handarbeit. „Wenn gekuppelt wird, müssen wir das jeweilige Gleis per Mausklick sperren“, erläutert Merle.

Ansonsten greifen er und sein Kollege bei Störungen ein. Etwa, wenn ein Waggon beim Abwärtsrollen aus unerfindlichen Gründen stehenbleibt und ein anderes Gleis versperrt. Dann hilft keine Förderanlage. Es muss eine stets in Bereitschaft stehende Lok an Ort und Stelle dirigiert werden. Zum Abschleppen.

Güterbahnhof Halle: 125 Jobs sind entstanden

Die großen Bildschirme erleichtern Mario Merle und Uwe Görlich den Überblick. Sie zeigen einen Plan der Gleise, jeder Waggon, jede Lok ist farbig markiert. So wissen beide stets, was wo steht - oder sich bewegt. Der kleine gelbe Bauzug etwa, den Merle zu Gleis 619 und dann weiter zu Gleis 625 dirigiert, bewegt sich als roter Strich kreuz und quer über den Bildschirm. Wenn Merle aus dem großen Fenster auf die Gleise vor ihm schaut, sieht er den echten Zug fahren.

Insgesamt hat die Bahn auf dem halleschen Güterbahnhof 125 Jobs geschaffen. Viele Beschäftigte sind schon länger dabei. Sie haben bisher etwa auf Güterbahnhöfen in Leipzig oder Dresden gearbeitet, die zugunsten Halles stillgelegt wurden. Mario Merle und Uwe Görlich dagegen mussten sich seit dem Betriebsstart im Sommer einarbeiten. Die elektronische Stellwerkstechnik „war Neuland für uns“, sagt Görlich. Beide schoben zuvor auf einem veralteten und mittlerweile abgerissenen Stellwerk im halleschen Hauptbahnhof Dienst.

„Sie können die Mitarbeiter nur bei laufendem Betrieb Erfahrungen sammeln lassen“, sagt Thomas Necker, Ingenieur bei der Bahn-Tochterfirma DB Netze. Auch die aufwendige Technik, etwa die Förderanlagen für zu früh gebremste Waggons, könne erst im Alltagsbetrieb exakt eingestellt werden. Um etwaige Mängel beseitigen zu können, war der Bahnhof bis zum Fahrplanwechsel am vorigen Sonntag nur zu einem Drittel ausgelastet. Erst seitdem rollen 2 400 Wagen täglich ins richtige Gleis.

Alles im Blick: Uwe Görlich und Mario Merle (von links) überwachen die Teilung und Zusammenstellung der Güterzüge.
Alles im Blick: Uwe Görlich und Mario Merle (von links) überwachen die Teilung und Zusammenstellung der Güterzüge.
Andreas Stedtler