Erdbeben schreckt Halles Umland auf Erdbeben schreckt Halles Umland auf: Mutter Erde hat Schluckauf

Halle (Saale) - Wohnen Sie in Würchwitz, Geußnitz, Kayna oder Gutenborn? Nicht? Glück gehabt. Damit haben Sie in Sachsen-Anhalt amtlich sicheren Boden unter den Füßen. Für alle anderen Einwohner südlich von Zeitz heißt es jetzt tapfer sein: Sie leben in einer Gegend, die laut Deutscher Industrienorm DIN 4149 eine Erdbebenzone Klasse 1 ist. Wo mit auch heftigeren Erschütterungen immer wieder gerechnet werden muss. Erdbeben? In Sachsen-Anhalt?
Am Donnerstagmorgen um 8.38 Uhr wurde einmal mehr deutlich, dass auch hierzulande Mutter Erde in der Lage ist, sich spürbar zu melden. Mit einer Magnitude von 3,6 war das Beben, das etwa die Erdbebenmessstation Wimmelburg (Mansfelder Land) registrierte, zwar eher ein harmloser Schluckauf als ein schwerer Rülpser. Ein laut internationaler Definition nur leichtes Beben, bei dem kaum Schäden zu erwarten sind - und auch keine verzeichnet wurden. Für den Geophysiker Ivo Rappsilber vom Landesamt für Geologie und Bergwesen (LAGB) aber war das Beben dennoch ein „außergewöhnliches Ereignis“. Nicht nur, weil es sich um die schwerste tektonische (in der Erdkruste entstandene) Erschütterung der vergangenen Jahrzehnte in Ostdeutschland handelte.
Sondern auch, weil das Epizentrum in der Gegend von Queis und Gröbers im Saalekreis und dem sächsischen Wiedemar lag. Und damit viel nördlicher, als das bei solchen Ereignissen üblich ist: „So starke Beben soweit nördlich im Raum Halle sind sehr selten“, sagte Rappsilber. Normalerweise würden Erdstöße dieser Stärke eher weiter südlich im Raum Zeitz, Gera und Ronneburg registriert. Für den Experten war daher besonders ärgerlich, dass er zum Zeitpunkt des Bebens schon im Büro und nicht mehr zu Hause war. Rappsilber wohnt nach eigenem Bekunden quasi direkt über dem in 22 Kilometer tiefe liegenden Herd des Bebens und hätte die Erschütterungen gern persönlich gespürt. Doch vor Rappsilbers hallischem Büro in der Köthener Straße sind Bauarbeiten im Gange - da erfuhr der Geophysiker erst vom Beben, als die ersten besorgten Bürger die Telefone im Bergamt nicht mehr stillstehen ließen.
Der Begriff kennzeichnet eine Form von Erdbebenserien. Deren einzelne Beben treten in einem begrenzten Zeitraum auf und haben oft eine ähnliche Stärke. Zum ersten Mal verwendet wurde der Ausdruck Erdbebenschwarm 1899. In einer Abhandlung ging es damals um mehr als 100 Beben in der Region Vogtland/Westböhmen, die sich innerhalb von fünf Wochen im Jahr 1824 ereigneten. Schwarmbeben gibt es in Deutschland neben dem Vogtland zum Beispiel noch bei Bad Reichenhall.
Häufiger als man denkt: Forscher gehen von tausenden jährlich aus. Die meisten sind aber nur technisch messbar, werden vom Menschen nicht gespürt. Für Deutschland und angrenzende Länder wie Tschechien, Österreich, Schweiz oder Niederlande listet das Erdbeben-Informationssystem des Bundes in den vergangenen zehn Jahren rund 650 Beben, die eine Stärke von mindestens 2,0 hatten. Im Schnitt kommt in Deutschland einmal jährlich ein Erdbeben vor, dessen Magnitude über 4,5 liegt. Vorwiegend gibt es Beben an geologischen Störungszonen entlang des Rheintals, auf der Schwäbischen Alb und im Vogtland.
Nicht besonders. Dennoch gibt es vor allem im Süden immer wieder einmal leichte Beben - zum Beispiel an einer Störungszone im Raum Zeitz-Gera-Altenburg. Das Erdbeben-Informationssystem führt zuletzt auch am 3. Mai dieses Jahres um 5.46 Uhr ein Erdbeben der Stärke 2,5 bei Zeitz.
Nach Angaben der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe war das stärkste seit 1900 ein Beben mit der Magnitude 5,9 im Jahr 1992 in der Niederrheinischen Bucht. Sein Epizentrum lag in den Niederlanden. Allein in Nordrhein-Westfalen wurden damals 30 Menschen verletzt. Der in Deutschland entstandene Schaden wurde auf über 150 Millionen D-Mark geschätzt. Rund 300 Kilometer weit zu spüren war bereits 1978 ein Beben auf der Schwäbischen Alb mit der Stärke 5,7. Allein in Albstadt mussten dutzende Gebäude abgerissen werden, tausende Häuser wurden beschädigt.. Die Münchner Rück-Versicherung schätzte den Schaden an Gebäuden auf rund 275 Millionen D-Mark.
Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe wertet bundesweit Erdbeben ab Stärke 2,0 aus. Über einen Fragebogen auf der Webseite können dort auch Bürger, die ein Beben gespürt haben, ihr Wissen weitergeben. Zudem gibt es Landeserdbebendienste, die auch kleinste Beben messen. In Mitteldeutschland existiert in Kooperation der Länder mit weiteren Partnern ein regionales Überwachungsnetz mit rund 30 seismologischen Stationen in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. In Sachsen-Anhalt gibt es drei: bei Wimmelburg (Mansfeld-Südharz), auf der Neuenburg (Burgenlandkreis) und in Flechtingen (Börde). In einigen Bergbaugebieten gibt es lokale Überwachungsnetze.
Berichtet wurde von klirrenden Gläsern und Geräuschen, als ob ein Lkw am Haus vorbeifahre oder Schränke verschoben würden. Hautnah miterlebt hat das Beben von Kabelsketal etwa Heiko Paukstadt aus dem Ortsteil Gröbers. Als kurz nach halb neun die Erde wackelte, glaubte er an eine Kreislaufattacke. Ein Beben sei ihm nicht in den Sinn gekommen, immerhin würden an seinem Haus vorbeidonnernde Lkw häufig für Erschütterungen sorgen. „Ich habe mich an der Wand entlang zum Wohnzimmer getastet“, sagt der 47-Jährige. Dass er gerade ein Erdbeben erlebt hat, erfuhr er erst später aus den Medien.
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Doch woher kam das Beben, wo Sachsen-Anhalt doch recht komfortabel mitten auf einer der größten Erdplatten - der eurasischen - liegt? Und damit weit entfernt von den klassischen Erdbebenzonen etwa in Süditalien. Des Rätsels Lösung hört sich an wie ein Eintrag aus dem Kursbuch der Bahn: Regensburg-Leipzig-Rostock-Störung. So heißt die Linie, in der sich analog zu den Rändern der großen Erdplatten Spannungen aufbauen und schlagartig lösen können. Verheerende Beben wie etwa im Pazifik oder im Südwesten Nordamerikas gelten zwar als ausgeschlossen.
Mehrere Beben im Jahr
Doch Erdstöße mit Magnituden bis Stärke 7 sind südlich von Zeitz, im Raum Gera und Altenburg, aus den Jahren 1346, 1366 und 1872 überliefert. Am 6. März 1872 bebte die Erde bei Gera so stark, dass der Burgturm der thüringischen Burg Posterstein ins Wanken geriet und die drei Meter dicken Mauern des Bergfrieds Risse bekamen. Dutzende Häuser im Norden Sachsens und Thüringens wurden beschädigt, Pferde gingen durch, Menschen wurden von herabfallenden Ziegeln verletzt. Dieses als „Mitteldeutsches Beben“ in die Historie eingegangen Ereignis war das stärkste je verzeichnete Beben in der Region - die Stöße waren gar in Magdeburg und Mainz zu spüren.
Sorgen müsse sich nach Angaben des Geophysikers Rappsilber aber rund um Halle niemand: Stärkere Beben, die auch zu Schäden führten, seien in der Gegend der Saalestadt extrem unwahrscheinlich. Üblicherweise merken die Menschen von den Beben, die mehrfach pro Jahr zwischen Halle und Zeitz registriert werden nichts. Mit Magnituden kleiner als 1 können diese nur von den empfindlichen Seismometern registriert werden - stärkere, vom Menschen wahrzunehmenden Erschütterungen wurden zuletzt 2010 und 2014 rund um Zeitz registriert.

