Der letzte Mann Egon Krenz in Halle: Wie der letzte SED-Chef mit 82 Jahren rastlos durch den Osten reist
Halle (Saale) - „Egon, erkennst du dich“, ruft Christine Krößmann und klappt ein großes Fotoalbum auf. Egon Krenz nickt aufmerksam mit dem Kopf. „Das bin ja ich“, sagt der 82-Jährige, immer noch großgewachsen, das weiße Haar voll und die Lippen breit. „Und das da, das bist du?“ Genau, strahlt Krößmann, die aus Weißenfels (Burgenlandkreis) zur Volkssolidarität in Halle gekommen ist, um den letzten Staatschef der DDR, der zugleich Parteichef der SED war, um ein Autogramm zu bitten.
„Das Bild ist von 1980, als unser Kollektiv den Karl-Marx-Orden bekommen hat und ich als junge FDJ-lerin mit zur Verleihung durfte.“ Fast 40 Jahre her. „Aber wir haben uns gut gehalten“, lächelt Egon Krenz.
Egon Krenz in Halle: Nachmittag der Erinnerung
Ein Nachmittag der Erinnerung ist es, der rund hundert überwiegend Ältere in das schmucke Altenheim am Böllberger Weg geführt hat, in das der Verein „Rotfüchse“ den Genossen Krenz geladen hat, der gerade wieder auf Lese-Tour ist. Das Buch ist neu, „Wir und die Russen“ heißt es.
Aber Krenz’ Thema ist dasselbe wie seit Jahren schon: Krenz ist auf Tournee, um die Wahrheit über den untergegangenen Staat zu erzählen, wie er sie sieht. Und um all den „falschen und gehässigen Darstellungen“, die je mehr über die DDR kursierten, je länger sie Vergangenheit ist, etwas entgegensetzen. „Denn so lange die wahren Ursachen der Spaltung nicht angesprochen werden, so lange wird die Einheit nicht gelingen“, sagt er.
Egon Krenz: Noch immer ständig auf Tour durch den Osten
Krenz wirkt frisch und fit, er trägt Jeans, ein legeres Polohemd und eine kleine goldene Armbanduhr. Er könnte daheim in Dierhagen im Liegestuhl sitzen und den Ruhestand genießen, statt in einer Woche von Bautzen nach Leipzig, nach Halle und weiter nach Dresden zu gondeln, um eine Schlacht zu schlagen, von der er weiß, dass er sie nicht gewinnen kann. „Aber ich muss das machen“, sagt er, „ich bin doch der Letzte, der noch da ist.“
Egon Krenz wurde am 19. März 1937 als Sohn eines Schneiders im pommerschen Kolberg geboren. Mit seiner Mutter flüchtete der Siebenjährige nach Mecklenburg, dort begann er später eine Schlosserlehre, trat in die FDJ ein, wechselte in ein Lehrerstudium und wurde SED-Mitglied.
Nach einem Studium in Moskau rückte er an die Spitze der DDR-Jugendorganisation FDJ und ab 1984 galt er als Kronprinz und designierter Nachfolger von DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker. Im Gegensatz zu Honecker sympathisierte Krenz mit den Reformen, die Michael Gorbatschow der Sowjetunion verordnete. Dennoch wagte er selbst nach Honeckers Erkrankung im Sommer 1989 keinen Versuch, den SED-Chef zu stürzen.
Erst nach dessen Abgang am 17. Oktober amtierte Egon Krenz als SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender, seine Amtszeit dauerte jedoch nur bis zum 6. Dezember 1989. In den Mauerschützenprozessen im Jahre 1997 wurde Krenz wegen Totschlags zu sechseinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. 2003 wurde er aus der Haft entlassen.
Bis auf Siegfried Lorenz, den letzten SED-Chef von Karl-Marx-Stadt, und Werner Krolikowski, dem ZK-Sekretär für Landwirtschaft, sind alle aus dem letzten Politbüro tot. Wobei: „Krolikowski wohl auch“, sagt Egon Krenz, genau weiß er es auch nicht. „Wir hatten danach nie mehr Kontakt.“
Bleibt nur er, der Mann aus Pommern, der in Damgarten aufwuchs, erst Schlosser werden sollte, dann aber Lehrer werden durfte, weil die DDR es ihm, dem Sohn eines Soldaten, der ihm Krieg geblieben war, ermöglichte. Er habe sich schon mit 14 für die DDR und die Sowjetunion entschieden, erzählt Krenz. „Ich habe damals Unterschriften gesammelt, damit der Westen auf Stalins Vorschlag für einen Friedensvertrag eingeht.“
Egon Krenz schlug früh SED-Laufbahn ein
Der Westen antwortet nicht, aber Ministerpräsident Otto Grotewohl schreibt dem jungen FDJ-ler aus Mecklenburg. „Tritt weiter so für den Frieden ein“, zitiert Krenz aus dem Brief von 1952, den er als Auftrag verstanden hat, aus den er sich selbst nicht mehr entlassen kann.
Seit er vor 16 Jahren nach Verbüßung von vier der sechseinhalb Jahren Haft wegen Totschlags und Mitverantwortung für das Grenzregime der DDR aus dem Gefängnis in Moabit entlassen wurde, ist er ruhelos unterwegs. Egon Krenz will klarstellen, einordnen und beschreiben, wie die jüngere deutsche Geschichte aus seiner Sicht abgelaufen ist. Und dabei keinen Zweifel daran lassen, dass keineswegs nur das, was er „unsere Seite“ nennt, kalten Krieg geführt hat.
Egon Krenz: DDR und BRD waren beide von Weltmächten abhängig
„Rückblickend denke ich manchmal, es ist angesichts der Umstände ein Wunder, dass die DDR überhaupt 40 Jahre durchgehalten hat.“ Schließlich sei das kleinere Deutschland ein Kind der Sowjetunion gewesen und sein Verhältnis zur größeren BRD ein Spiegelbild des Verhältnisses der beiden Weltmächte.
„Hielten wir uns an die Regeln, gab es keine Probleme mit Moskau.“ Als Erich Honecker aber in den 80er Jahren eine deutsch-deutsche Annäherung versucht habe, zeigte der Kreml die Instrumente: „Auf einmal hieß es, statt 21 Millionen Tonnen Öl gibt es nur noch 17 Millionen.“
Der Hund wedelte mit dem Schwanz. „Deutschlands unerlöste Provinzen“, zitiert Krenz eine Beschreibung Konrad Adenauers für die DDR, mussten lavieren und parieren. Aber auf der anderen Seite sei die Regierung in Bonn ebenso an der langen Leine Washingtons gelaufen. „Das wird heute immer vergessen.“
Egon Krenz in Halle: Ein paar Fehler gibt er zu
Nicht hier allerdings, im Kreise der Frauen und Männer, die sich vor 40 Jahren mit einer ausnahmsweise lockeren FDJ-Parole wohl als „Fans von Egon Krenz“ bezeichnet hätten und es ein bisschen heute noch sind. Grau sind die Köpfe geworden, nachdenklich die Mienen. „Was haben wir falsch gemacht, Egon“, fragt ein Mann, der die Gelegenheit gleich noch nutzt, dem Politbüro dafür zu danken, „dass ich in der DDR aufwachsen durfte“.
Krenz weiß es aber auch nicht, jedenfalls nicht genau. Hätte die DDR Mitte der 80er, als Erich Honecker aus Moskau erstes Munkeln vernahm, dass die neue Führung unter Michael Gorbatschow nachdachte, wie sie die DDR zum Höchstpreis loswerden könne, selbst in die Offensive gehen müssen? „Wenn Erich Honecker zu Helmut Kohl gesagt hätte, denken wir doch über eine Konföderation nach, da hätte der aber geguckt.“ Und, die Spitze muss sein, „im Weißen Haus anrufen müssen, um zu fragen was er sagen soll“.
Egon Krenz: In den 80ern war er an Weltpolitik beteiligt
So ein Spiel über Bande war die Weltpolitik, die Egon Krenz erlebt hat. Sie ist es immer noch, denn dass es den USA 1989 um die Deutsche Einheit gegangen sei, mag er nicht glauben. „Das Ziel war dasselbe wie immer seit 1945: Den sowjetischen Einfluss aus Mitteleuropa zu entfernen.“
Eine Niederlage nennt Krenz das heute, schmerzhaft, „auch für mich ganz persönlich.“ Oft frage er sich, ob der Fall dieses „Vorpostens des Sozialismus“ nicht auch das Ende der Sowjetunion eingeleitet habe. Gorbatschow sei ja mit seinen Reformen gescheitert gewesen. Einerseits, meint Krenz, weil er nach den langen Jahren der Stagnation in der SU zu spät gekommen sei, andererseits, weil ihm seine Eitelkeit und fehlendes strategisches Denken im Weg gestanden hätten.
Egon Krenz fühlt sich von Gorbatschow verraten
„Ich selbst fühle mich von ihm verraten“, sagt er. Schließlich habe er noch am 1. November 1989 bei Gorbatschow im Büro gesessen und auf seine Frage, ob die UdSSR weiter zu ihrem Kind DDR stehe, vom sowjetischen Genossen die Antwort bekommen, mit ihm werde es keine deutsche Einheit geben. „Ich habe ihm vertraut, viel zu lange.“
Aber sonst könne er bei sich zwar Fehler sehen, aber keine grundsätzlichen. „Und die Ablösung Honeckers gehört nicht dazu.“ Er sei es gewesen, der am 3. November 1989 mit einem Befehl an alle bewaffneten Organe ein Schießverbot erlassen habe, er rechne der DDR hoch an, dass das, was er einst als „Wende“ ausgerufen hatte, absolut friedlich verlaufen sei. „Das ist das humanistische Erbe der DDR“, ruft Krenz und er muntert die Genossen auf: Die Niederlage von 1989 sei nur eine zeitweilige, daran glaube er fest. Damals sei nicht der Sozialismus zu Grabe getragen worden. „Nein, schaut nach China“, fordert er, „da liegt die Hoffnung.“ (mz)