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"Disziplinierung durch Medizin" "Disziplinierung durch Medizin": Misshandelt in einer halleschen Poliklinik

Von Silvia Zöller 11.09.2014, 10:16
Hinter den Mauern dieser ehemaligen Poliklinik im Stadtzentrum von Halle wurden Frauen in eine geschlossene Abteilung für Geschlechtskrankheiten zwangseingewiesen.
Hinter den Mauern dieser ehemaligen Poliklinik im Stadtzentrum von Halle wurden Frauen in eine geschlossene Abteilung für Geschlechtskrankheiten zwangseingewiesen. Stedtler Lizenz

Halle (Saale) - Brutale Gewalt bei gynäkologischen Untersuchungen, Bestrafung der weiblichen Patienten mit Kahlscheren des Kopfes, zwangsweise Tätowierung und Nachtruhe auf einem Hocker statt in einem Bett - das war in den 60er und 70er Jahren Realität in einer geschlossenen Krankenhausabteilung für Geschlechtskrankheiten in Halle. Frauen, die dem DDR-System widersprachen, sollten hier durch Gewalt und Medikamente gefügig gemacht werden. Viele von ihnen waren überhaupt nicht geschlechtskrank.

Was in der geschlossenen Abteilung in der ehemaligen Poliklinik Mitte vor sich ging, ist ungeheuerlich und blieb lange im Dunkeln. Bekannt war die Einrichtung dennoch - unter dem abwertenden Namen „Tripperburg“. Jetzt haben erstmals Wissenschaftler das Geschehen aufgearbeitet: In einer Pressekonferenz stellten die Autoren Florian Steger, Direktor des halleschen Uni-Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, und sein Mitarbeiter Maximilian Schochow sowie die Landesbeauftragte für Stasi-Unterlagen, Birgit Neumann-Becker, am Donnerstag die Studie „Disziplinierung durch Medizin“ vor. Das Buch ist im Mitteldeutschen Verlag erschienen.

"Hierarchisches Terrorsystem"

Für Steger steht fest: In der geschlossenen Abteilung herrschte ein „hierarchisches Terrorsystem“, in dem Frauen gegen ihren Willen untersucht und mit Medikamenten behandelt wurden. „Hier wurde geltendes DDR-Recht mit Füßen getreten“, sagte Steger, der von den Forschungsergebnissen „tief erschüttert“ ist. Die jetzt vorgestellte Untersuchung sei aber nur der Anfang: Steger will ähnliche Einrichtungen aus der DDR-Zeit untersuchen, das Thema soll nun auch im Landtag behandelt werden.

Als geschlossene venerologische Abteilung des Bezirkskrankenhauses Dölau wurde die Station 1961 in der damaligen Poliklinik Mitte eingerichtet. Venerologie bezeichnet das Fachgebiet, in dem Geschlechtskrankheiten behandelt werden. Die Station in der zweiten Etage der Einrichtung, mitten in der Stadt Halle in der Nähe des Händelhauses, lag im Innenhof der Poliklinik und hatte vergitterte Fenster und Türen. 1982 wurde die Abteilung geschlossen. Seit den 90er Jahren steht das Gebäude leer.

Das Buch „Disziplinierung durch Medizin“ ist jetzt im Mitteldeutschen Verlag erschienen. Es ist im Buchhandel erhältlich und kostet 12,95 Euro.  

Mehrfach hatte die Mitteldeutsche Zeitung 2012 und 2013 über das Schicksal der Frauen berichtet, die oftmals ohne an einer Geschlechtskrankheit zu leiden, in die berüchtigte Abteilung eingewiesen worden waren. Viele Zeitzeuginnen meldeten sich daraufhin, deren Erinnerungen sind neben Recherchen in Archiven Teil des Forschungsprojektes.

Begonnen hatte alles mit einem Anruf, den Heidi Bohley vom Verein „Zeitgeschichten“ in Halle im Jahr 2000 von einer verzweifelten Frau erhalten hatte: „Sie schilderte ihre Erlebnisse in der geschlossenen Abteilung in Halle. Ihr hatte bisher niemand Glauben geschenkt.“

Heidi Bohley glaubte ihr, denn zwei ihrer eigenen Bekannten waren selbst in den 70er Jahren in die die geschlossene Abteilung eingewiesen worden. „Diese Frauen beschrieben den leitenden Arzt als Sadisten“, erinnert sie sich - und setzte nach dem Anruf der Frau auf weitere eigene Recherchen. So fand sie Unterlagen, nach denen die Staatsanwaltschaft noch zu DDR-Zeiten gegen den leitenden Arzt ermittelt hat, nachdem ein Fall des Kahlscherens einer Patientin bekannt wurde. Und sie fand die martialische Hausordnung der Klinikabteilung aus dem Jahr 1963, in der auf die „erzieherische Einwirkung“ im Sinne des „sozialistischen Zusammenlebens“ die Rede war und drakonische Strafen aufgelistet waren.

Frage nach Opferentschädigung

Auch mit Christoph Koch, dem stellvertretenden Landesbeauftragten für Stasi-Unterlagen, sprach Heidi Bohley über diese Geschichte, nachdem ihre eigenen Recherchen nicht weiterführten. Nach mehreren Veröffentlichungen in der Mitteldeutschen Zeitung meldeten sich immer mehr betroffene Frauen. Und das war für die Landesbeauftragte für Stasi-Unlagen, Birgit Becker-Neumann, der Punkt, eine wissenschaftliche Studie in Auftrag zu geben: „Hier ist Misshandlung durch Medizin geschehen. Das war politisch motiviertes Unrecht“, betonte sie am Donnerstag. Nun müsse die Frage nach der Opferentschädigung geklärt werden, denn Nachweise für die Zwangseinweisung habe keine der Frauen erhalten.

Nun liegt die Studie vor, die zu erschreckenden Ergebnissen kommt. Auch wenn es in Leipzig, Berlin und anderen Städten weitere solcher geschlossenen Abteilungen für Geschlechtskrankheiten gegeben hat, so sei nach dem jetzigen Stand der Forschung klar, dass Entmündigung und Disziplinierung der Patientinnen und Gewalt gegen sie in Halle anders als in den anderen Einrichtungen im Mittelpunkt gestanden habe, so Steger.

Viele Patienten seien unter dem Verdacht der Prostitution eingewiesen worden - häufig nur als Vorwand. Und auch, dass die Staatssicherheit in der geschlossenen Klinikabteilung ein und aus ging, ist nach der Studie belegt. (mz)