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Nominiert für den Bürgerpreis „Der Esel, der auf Rosen geht“ Der Kampf gegen das Gift

Erich Gadde ist für den Bürgerpreis nominiert. Seit vielen Jahren fordert er eine Beseitigung der gesundheitsschädlichen Abbaustoffe der früheren Orgacid-Fabrik aus der Nazizeit.

Von Silvia Zöller Aktualisiert: 28.05.2024, 12:59
Ein erster Erfolg: Erich Gadde von der Bürgerinitiative Orgacid bei der Aufstellung einer  Infotafel über die Geschichte der ehemaligen Giftgasfabrik
Ein erster Erfolg: Erich Gadde von der Bürgerinitiative Orgacid bei der Aufstellung einer Infotafel über die Geschichte der ehemaligen Giftgasfabrik (Foto: Schellhorn)

Halle/MZ. - Die Liste ist lang: Leukämie, Magenkrebs, Brustkrebs, Pankreaskrebs, Lungenfibrose, Depressionen. Die Namen von 71 Betroffenen hat Erich Gadde seit 2019 gesammelt, denen eines gemein ist: Sie haben ganz in der Nähe der ehemaligen Giftgasfabrik Orgacid in Ammendorf gewohnt. Dort wurde Lost produziert, besser bekannt als Senfgas, das auf der Haut ähnliche Blasen wie bei einer Verbrennung hervorruft und außerdem als stark krebserregend gilt.

Viele der betroffenen 71 Ammendorfer sind bereits gestorben. „Es besteht der Verdacht, dass diese Menschen Kontakt mit toxischen Stoffen hatten“, sagt Erich Gadde. Der 82-Jährige hat selbst 40 Jahre im Plastwerk Ammendorf gearbeitet, das unmittelbar neben dem 1945 stillgelegten Orgacid-Werk liegt. Auch er ist erkrankt: Lungenfibrose, eine zunehmende Vernarbung des Organs.

Die Giftgasfabrik Orgacid in Ammendorf
Die Giftgasfabrik Orgacid in Ammendorf
(Foto: Privat)

Dass viele Menschen, die im Plastwerk gearbeitet oder in der Nähe gewohnt haben, schwer erkrankt sind, war Gadde bereits in den 1990er-Jahren aufgefallen. Als Gefahrgutbeauftragter der Sanierungsgesellschaft des Plastwerks beschäftigte ihn das beruflich. 1995 informierte er das Gesundheitsamt. „Ich habe von dort keine Antwort erhalten“, bedauert er. Jahrelang versuchte er alleine, auf das Gefahrenpotenzial hinzuweisen, 2019 gründete er mit 14 ebenfalls erkrankten Personen eine Bürgerinitiative.

Erich Gadde ist seit 2019 Sprecher der Bürgerinitiative Orgacid in Halle

Jetzt ist Gadde für den Bürgerpreis „Der Esel, der auf Rosen geht“ nominiert. „Ich möchte Erich Gadde vorschlagen, da er sich seit über 30 Jahren ehrenamtlich für die Aufarbeitung und Beseitigung der Altlasten der giftigen Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkrieges, die Produktion von Senfgas in Ammendorf, engagiert“, sagt der CDU-Landtagsabgeordnete Thomas Keindorf. 2019 sei Gadde als Sprecher der Bürgerinitiative Orgacid vor den Ausschuss des Landtages Sachsen-Anhalt getreten. „2021 richtete er eine Petition an den Landtag von Sachsen-Anhalt und schiebt damit das Thema im Landtag an, die Beratungen laufen“, so Keindorf.

Das Schild warnt am Gelände der ehemaligen Giftgasfabrik.
Das Schild warnt am Gelände der ehemaligen Giftgasfabrik.
Foto: Tanja Goldbecher)

Ein kleiner Erfolg, ja, sagt Gadde. „Es ist nicht umsonst, man hört uns.“ Nach wie vor sei aber eine grundlegende Beseitigung der Giftstoffe und der Abbaustoffe des Gifts notwendig. Stattdessen wurde 1995 das Gelände mit einer dicken Erdschicht gesichert, beklagt Gadde. „Ein Gutachten ergab damals, dass eine grundlegende Sanierung mindestens 90 Millionen Euro kostet“, sagt er. 2018 machen Anwohner darauf aufmerksam, dass sich Giftstoffe im Grundwasser nachweisen lassen.

Erich Gadde bleibt dran: Er spricht mit Experten, besucht Archive, wo aber zum Teil keine Akten mehr vorhanden waren. „Zu DDR-Zeiten waren alle Umweltdaten tabu“, vermutet er den Grund für ein mögliche Vernichtung der Unterlagen. Gadde hält Vorträge über „Das giftige Geheimnis um Ammendorf“. In Halle, Lochau und Merseburg erreicht er damit rund 600 Zuhörer. Er veröffentlicht Beiträge zum Thema in verschiedenen Sammelbänden.

Gutachten spricht von hochtoxischen Kampfstoffen in Halle-Ammendorf

Und er nimmt Forschungsergebnisse ernst. 2021 verfasst der Wiesbadener Umweltanalytiker Tobias Bausinger ein neues Gutachten zu Orgacid und kommt zu folgender Erkenntnis: „Bei den produzierten Losten handelt es sich um hochtoxische Hautkampfstoffe, die zudem ein hohes carcinogenes und mutagenes Potential besitzen. Auch einige Zwischen- und Nebenprodukte sind als hochtoxische Substanzen einzustufen.“ Allerdings bedeute dies nicht zwangsläufig, dass all diese Stoffe auch heute noch in signifikanten Mengen am Standort anzutreffen seien.

Deshalb fordern Gadde und die Bürgerinitiative nun, die verschlissenen Grundwassermessstellen zu erneuern, um so Klarheit zu bekommen. Und: „Für vier neue Messstellen ist das Geld da, wurde uns mitgeteilt“, freut er sich. Zudem soll auch der Feuerlöschteich auf dem Areal saniert werden. Der größte Erfolg ist für den Rentner allerdings, dass Orgacid jetzt, nachdem sich im Januar 2024 der Umweltausschuss des Landes damit beschäftigt hat, zur Chefsache wird. Armin Willingmann (SPD), Minister für Wissenschaft, Energie, Klimaschutz und Umwelt des Landes Sachsen-Anhalt, soll sich nun des Themas annehmen.

Doch was könnte auf dem zwölf Hektar großen Gelände nach einer Sanierung geschehen? Erich Gadde ist für eine Wiederbelebung der Fläche als Industriestandort mit Eisenbahnanschluss. Fast wäre das auch ein Plan gewesen: 2020 beauftragte der Stadtrat den Oberbürgermeister, Gespräche mit Bund und Land aufzunehmen, damit das Areal als ein modernes, klimaneutrales Gewerbegebiet entwickelt werden kann. Das Geld dafür soll aus dem Strukturwandelfonds kommen. „2022 wurde das als Leuchtturmprojekt beschlossen, ein halbes Jahr später ohne Erklärung wieder gestrichen“, bedauert Gadde.