«Das Dorf ist wie meine Familie»
Halle/MZ. - SCHOCHWITZ / MZ. "In der Woche habe ich keine Zeit, da bin ich ausgebucht. Samstagvormittag, so halb zehn, da können wir uns treffen, aber bitte pünktlich." So kennt man sie, das "Urgestein" Rodelinde Kämpfer aus der 1 200-Seelen-Gemeinde Schochwitz, immer resolut und schlagfertig.
Ob Erntedankfest, Sanierung der Dorfkirche, Chorfestival, Kommunalwahlen oder Karneval - überall ist die rüstige Rentnerin mit Stift, Notizblock und Kamera dabei. Seit über 20 Jahren hält die nette, zierliche Frau die Geschichte ihres Heimatortes in Wort und Bild fest. "Das Schreiben der Ortschronik macht mir sehr viel Freude, denn das Dorf ist meine Familie", sagt die 83-Jährige.
Im Mai 1925 erblickte Rodelinde Kämpfer in Schochwitz das Licht der Welt. 1944, noch mitten im Krieg, legte sie ihr Abitur ab. 1946 absolvierte sie in Hettstedt eine Ausbildung zur Lehrerin. "Wer ein bisschen schlau war, schaffte die Prüfung auch", sagt sie und lächelt verschmitzt. 44 Jahre hat sie diesen Beruf ausgeübt und Schüler in Deutsch, Musik, Englisch und Sport unterrichtet. "Es ist schön", freut sie sich, "dass die Verbindung zu den ehemaligen Schülern nie abgebrochen ist." Noch heute werde sie zu Klassentreffen eingeladen. Und wie ist sie eigentlich zum Schreiben der Ortschronik gekommen? "Das liegt wohl irgendwie in der Familie", erzählt Rodelinde Kämpfer.
Einst war es ihr Vater, der die Schulchronik in Schochwitz führte. Aber auch die Mutter hat einen gewissen Anteil daran. "Im Urlaub sagte sie einmal zu mir, schreib doch mal auf, was du so alles erlebt hast", erinnert sich die humorvolle Seniorin. Sie führte bis zum 25. Lebensjahr Tagebuch. Später verspürte sie dann auch große Lust, die Ortschronik zu schreiben.
Sieben dicke Wälzer, sie umfassen den Zeitraum von 1133 bis zum Jahr 2000, hat die energiegeladene Rentnerin bereits geschrieben. Das sind insgesamt über 1 500 Seiten im A 3-Format. Hunderte Geschichtsbücher hat sie dafür durchforstet und sich so manche Nacht um die Ohren geschlagen. Rodelinde Kämpfer ist stolz auf ihre Arbeit und froh, dass es die Chronik auch im handlichen Buchformat gibt. Eines der Büchlein soll sogar nach Kanada an ehemalige Schochwitzer geschickt worden sein. Auch in der Bibliothek der Martin-Luther-Universität in Halle können Neugierige Einsicht nehmen und die Geschichte von Schochwitz erforschen.
Rodelinde Kämpfer blättert gern in der Ortschronik und erinnert sich an viele lustige Geschichten, die sie aufgeschrieben hat.
Zum Beispiel die von einem Postboten, der im Jahr 1850 täglich einen 20-Kilometer-Fußmarsch durch acht Orte rund um Schochwitz zurücklegen musste, um Briefe zu verteilen. "An manchen Tagen haben sich die Leute auch gewundert, wo er bleibt", erzählt die Schochwitzerin und schmunzelt. "Dann saß er irgendwo unter einem Baum und war eingeschlafen."
Nachdenklich wird die Ehrenbürgerin von Schochwitz, ist von der Nazizeit die Rede. So zum Beispiel, wenn es um den Kriegsverbrecher Ludolf von Alvensleben geht. Er bewohnte das Schloss in Schochwitz im Dritten Reich und bewirtschaftete große Ländereien. 1933 leitete er den Überfall von 500 bewaffneten SA-Leuten auf eine Veranstaltung der kommunistischen Roten Hilfe in Eisleben. Bei diesem "Eislebener Blutsonntag" starben drei Menschen.
Alvensleben wurde später in einem bewegenden Dokumentarfilm porträtiert. Im Jahr 2000 zur 50. Berlinale in Berlin hatte der Streifen "Mit Bubi heim ins Reich" Premiere. Hier stand dann auch Rodelinde Kämpfer im Scheinwerferlicht. Regisseur Stanislaw Mucha hatte sie auf die Bühne gerufen. Sie und weitere Schochwitzer hatten mit ihren Erinnerungen maßgeblichen Anteil am Entstehen des Streifens.
Immer aktiv, immer auf den Beinen - wie schafft sie das alles in ihrem Alter? Rodelinde Kämpfer lächelt und streicht sich übers Haar: "Für mich ist das Alter kein Grund dafür, sich nicht mehr fit zu halten", sagt sie. Auch deshalb ist die lebenslustige Frau heute noch immer eine leidenschaftliche Camperin. In Seeburg steht ihr kleiner Wohnwagen. Hier erholt sie sich im Sommer, tankt Kraft in der freien Natur, geht Schwimmen, Radfahren, Spazieren oder gönnt sich ein Schwätzchen mit Freunden.
"Aber manchmal gibt es auch Tage", so gesteht die Schochwitzerin, wo ich von der Ortschronik nichts mehr sehen und hören will." Dann greift sie auch mal zu Pinsel und Farbe und malt für Bekannte und Freunde ein paar Glückwunschkarten oder sie bringt Kindern und Erwachsenen das Keyboard- und Klavierspielen bei.