Archäologie Archäologie: Als Halle noch ein Dorf war

HALLE (Saale)/MZ - Vor vielleicht 650 Jahren saß ein Kammmacher in seiner Werkstatt und spaltete vorsichtig Rinder-Mittelfußknochen. Einen Steinwurf entfernt nur könnte damals der seit 1339 in Halle ansässige Serviten-Orden mit dem Bau der späteren St.-Ulrich-Kirche begonnen haben. Die Knochen und das Kuhhorn für seine Kämme hatte der wackere hallesche Handwerker von Metzgern und Gerbern bekommen.
Filigrane Zinken sägte er dicht nebeneinander in das zerbrechliche Bein. „So richtig kämmen konnte man sich mit diesen Kämmen sicher nicht. Sie dienten vielleicht zum Feststecken der Haare. Oder auch nur zum Schmuck“, sagt Andreas Neubert. Einige besonders feine Kämme dienten wohl der Läuse-Behandlung. Der Archäologe hat mit sechs Helfern in den vergangen Wochen in der Baugrube an der unteren Leipziger Straße viele solcher Kämme gefunden. Und manches misslang dem Kammmacher damals offenbar, er fabrizierte Ausschuss, den er wegwarf.
Im Mittelalter aber gab es keine Müllabfuhr. Die Leute schütteten alles – und das heißt wirklich alles - einfach auf die Straße oder
in Gruben hinters Haus. Damals mögen solche hygienischen Unverhältnisse die Verbreitung der Pest begünstigt haben, aus heutiger Sicht ist der nicht weggekehrte Dreck vor der eigenen Haustür der Altvorderen ein großes Glück. Denn hauptsächlich die Abfälle, Scherben vor allem, machen die Stadtgeschichte heute nachvollziehbar. Einer Mauer sieht man nicht unbedingt an, wie alt
sie ist, den Scherben daneben schon.
Wo Mitte April der Bau eines neuen Kaufhauses beginnt, steht Neubert heute inmitten eines wahren Gewirrs aus Mauerresten: Feldstein und Ziegel. Gewölbe zeichnen sich ab. „Wir haben uns vom 20. Jahrhundert bis zu den Kellern und Mauern des 16. Jahrhunderts herunter gegraben. Die Mauern stehen aber teilweise in Schichten, die noch älter sind, so 13. und 14. Jahrhundert“, schätzt Neubert. Wie eben auch die Überreste der Bein- und Hornwerkstatt.
Den Archäologen war klar, dass man an dieser Stelle auf Zeugnisse der alten Stadt stoßen würde. „Hier befand sich vor dem Bau der Klosterkirche ein befestigter Einzelhof. Es gibt Beschreibungen von 1339“, so Neubert. Man habe aber eben auch typische spätslawische Keramik-Scherben gefunden, 11. oder 12. Jahrhundert. In jene Zeit also, als die erste Stadtmauer entstand. „Wir befinden uns damit an einem Wendepunkt: Die Kernsiedlung am heutigen Markt und die befestigten Einzelhöfe verschmolzen zur Stadt“, sagt Neubert.
Die Archäologen haben sogar Scherben gefunden, die noch deutlich älter sein dürften. „Das könnte Eisenzeit sein, also 2 500 Jahre.“ Auch damals war diese leicht erhöhte Stelle im Gelände also Siedlungsgebiet.
Die Grabungen für das neue Kaufhaus gehen noch bis 11. April weiter. Danach werden die Baumaschinen alles unterbaggern, während die Archäologen das Puzzle der mittelalterlichen Stadtgeschichte weiter komplettieren. Bis dahin werden Tausende Fundstücke aus den Müllgruben der 800 Quadratmeter großen Grabungsfläche in der Innenstadt gewaschen und untersucht. Auch die Kämme.
