Überlebender erinnert sich an Anschlag Stärker als der Attentäter
Ezra Waxman betete in der Synagoge, als draußen die Schüsse fielen. Wie der Jude aus den USA sich an den Tag des Anschlags in Halle erinnert und wie er mit anderen Opfern zu einer Gemeinschaft wurde.
Halle (Saale)/MZ. - An die Details dieses Tages erinnere er sich nicht mehr, sagt Ezra Waxman. „Aber woran ich mich erinnere ist, wie konfus wir alle waren.“ Die Überwachungskamera draußen überträgt Bilder ins Innere von einem Mann mit Helm, der die Eingangstür beschießt.
„Die Schüsse haben wir auch gehört. Boom!“, sagt er, „definitiv waren das Schüsse.“ Mit fünf, sechs anderen rennt er in die obere Etage, „dort blieben wir, bis die Gefahr vorbei war. Bis wir glaubten, die Gefahr sei vorbei.“
Anschlag auf Synagoge in Halle: Ein Überlebender erinnert sich
Ezra Waxman (36), Mathematiker aus Boston (USA), gehört zu den 52 Menschen, die am 9. Oktober 2019 den rechtsextremen und antisemitischen Anschlag auf die hallesche Synagoge überlebt haben.
Es ist der höchste jüdische Feiertag Jom Kippur, Waxman feiert ihn gemeinsam mit anderen Gläubigen in Halle. Sie sind mitten im Gebet, als die ersten Schüsse fallen, exakt um 12 Uhr. Die schwere hölzerne Tür der Synagoge hält den Gewehrsalven stand.
Eigentlich hatte er sich auf Halle gefreut
Waxman ist zu dieser Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni in Dresden, er lebt in Berlin. Dort besucht er regelmäßig die Jüdische Gemeinde, so ergibt sich der Kontakt nach Halle. „Meine Religion ist Teil meines Lebens“, sagt er. „Ich bete jeden Morgen, gehe jede Woche in die Synagoge, studiere die Thora.“ Er freut sich auf den Jom-Kippur-Feiertag in Halle.
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Gut acht Monate später wird Ezra Waxman dem Attentäter zum ersten Mal gegenübertreten, in Saal C 24 des Landgerichts Magdeburg. Am 21. Juli 2020 eröffnet das Oberlandesgericht Naumburg in dem zum Hochsicherheitstrakt umgebauten Saal den Prozess gegen den Schützen von Halle. Waxman tritt als Nebenkläger auf und, am 15. September, auch als Zeuge.
Wir Nebenkläger haben ihm gezeigt: Wir sind stärker als Du.
Ezra Waxman, Überlebender des Anschlags von Halle
Seit dem Prozessbeginn, erzählt er, hat er viel recherchiert über antisemitische Ideologie. Über die Motive derjenigen, die, wie der Angreifer von Halle, als vermeintliche Einzeltäter auftreten, aber Teil eines großes Netzwerkes sind, radikalisiert in den wirren Abgründen des Internets.
Über den rechtsextremen Attentäter sagt er: „Ich wollte verstehen, wer dieser Mann ist, was ihn treibt. Und ich wollte mich ihm zeigen.“ Wenn er mich hasst, so denkt Waxman damals, dann soll er mir das ins Gesicht sagen.
Waxman kann es zu Prozessbeginn wohl noch nicht wissen, doch die Begegnung mit dem Terroristen wird ihm dabei helfen, mit dem Terror des 9. Oktober umzugehen. „Es hat mich gestärkt, ihm gegenüberzutreten“, sagt er heute.
Nach Anschlag in Halle: Überlebender wohnt nicht mehr in Deutschland
Ein Satz, der eine Weile nachhallt, Ezra Waxman erläutert ihn: „Wir Nebenkläger haben ihm gezeigt: Wir sind stärker als Du. Du kannst uns nicht brechen. Du wirst den Rest deines Lebens hinter Gittern verbringen. Wir werden frei sein.“ Angst habe er vor der Begegnung im Gerichtssaal nicht gehabt, sagt er. „Ich habe mich sicher gefühlt. Ich habe sogar meine Kippa getragen.“
Ezra Waxman hat Deutschland nach dem Attentat den Rücken gekehrt. „Ich wäre sehr gern geblieben, aber mein Stipendium in Dresden endete.“ Mittlerweile ist er Doktorand an der Universität im israelischen Haifa.
Derzeit hält er sich für ein Forschungsprojekt in Frankreich auf, die MZ erreicht ihn am Telefon in Lille. Halle, sagt er, werde er immer mit sich tragen, „wie eine Narbe“. Eine, die verheilt ist, aber dennoch ihre Spuren hinterlässt.
Nach Halle-Attentat: Ezra Waxman hält Kontakt zu anderen Überlebenden
Nach wie vor hält er den Kontakt nach Halle und zu anderen Überlebenden aus der Synagoge. Erst im vergangenen Jahr, erzählt er, hat er sich mit dem Vater von Kevin S. getroffen. Der Attentäter hatte den jungen Mann auf seiner Flucht im Kiez-Döner an der nahegelegenen Ludwig-Wucherer-Straße erschossen, nachdem er zuvor vor der Synagoge die zufällig vorbeikommende Jana L. getötet hatte.
Waxman traf sich auch mit deren Mutter und oft mit den Leuten vom Kiez-Döner. „Wir sind wie eine große Gemeinschaft“, sagt er. Wir tun unser Bestes, um in Kontakt zu bleiben.“ Auch mit den Opfern und den Hinterbliebenen anderer Anschläge wie etwa in Hanau. In der hessischen Stadt erschoss im Februar 2020 ein Rassist neun Menschen mit Migrationsgeschichte.
Terror trifft die gesamte Gesellschaft
Die Attacken hätten ein großes Netzwerk geformt, sagt Waxman. Unglaublich wichtig sei das, weil es zeige: Niemand sei allein. „Die Attentate haben uns zusammengebracht, ob Juden, Muslime oder Christen.“
Denn eines sei doch klar, betont der junge Wissenschaftler: Terror, ob in Halle, in Hanau oder anderswo, treffe nie nur eine bestimmte Gruppe, selbst wenn der Angreifer von Halle ursprünglich die Synagoge als Ziel hatte. „In Halle hat nicht nur die Jüdische Gemeinde gelitten. Die ganze Stadt hat gelitten. Terror trifft immer die gesamte Gesellschaft. Das ist eine Tatsache.“
Nicht nur an Jahrestag an Anschlag in Halle erinnern
Ezra Waxman hält es für wichtig, nicht nur an Jahrestagen wie jetzt in Halle daran zu erinnern. Am Ende, meint er, gehe es doch darum: „In welcher Art von Gesellschaft wollen wir leben und welche Art von Gesellschaft wollen wir unseren Kindern vererben?“
Für ihn ist die Antwort klar: Es muss eine Gesellschaft sein, die offen ist für alle. Schon in der Bibel sei die „Liebe zum Fremden“ eines der zentralen Gebote. „Der Kampf gegen Antisemitismus ist ein hervorragender Lackmustest dafür, wie gut eine Gesellschaft in der Lage ist, dieses Ideal zu verwirklichen.“