Andenken Andenken: Schatzsuche in London
LÖBEJÜN/London/MZ. - Mitten in London. Big Ben schlägt gerade. Andreas Porsche lauscht einen Moment. Ein ungewöhnlich tiefer Ton. Er weiß, die Glocke wiegt fünfeinhalb Tonnen. Darüber aber weiter nachzudenken, bleibt jetzt keine Zeit. Porsche, Arzt und Hobby-Musiker aus Eisleben (Mansfeld-Südharz), und seine beiden Helfer Enrico Rummel und Thomas Madl aus Löbejün (Saalekreis) haben nämlich einen Plan. Gleich wollen sie im nahe gelegenen Nobel-Stadtteil Kensington einen wertvollen Schatz heben. Dem Trio aus Sachsen-Anhalt geht es um Musikalien von, mit und über Carl Loewe. Und Loewe ist für sie nicht irgendwer. Der Komponist der Romantik - im 19. Jahrhundert so etwas wie ein Pop-Star - gilt als der bedeutendste Sohn ihrer Heimatstadt. Seinem Andenken widmet sich die von Porsche ehrenamtlich geleitete Internationale Carl-Loewe-Gesellschaft.
Ziel der November-Reise ist die größte Loewe-Sammlung der Welt. Ihr Besitzer heißt Ian Robertson Lilburn, der sie als sein Lebenswerk betrachtet. Der schottische Adlige, der früher sein Geld als Historiker und Prozessberater verdiente, lebt in einer Villa mit sehr viel Platz. Dennoch geht es in dem aristokratischen Gemäuer ziemlich eng zu. Der Grund: Es ist die Fülle an Loewe-Zeugnissen, die Lilburn seit als sechs Jahrzehnten dort zusammenträgt. Dazu gehören vor allem Unmengen von historischen Aufnahmen, originalen Noten und Büchern. Inzwischen fordert das Alter seinen Tribut, stellt der Gastgeber mit leiser, aber fester Stimme fest. Nachmittags gehe es ihm gut, vor allem heute. Er freue sich auf das Gespräch mit seinen Freunden aus Sachsen-Anhalt, der Heimat des von ihm so verehrten Musik-Genies.
Mit Blick auf königliche Parkanlagen gibt Porsche erste Auskunft. Lilburns Fragen beziehen sich vor allem auf das Carl-Loewe-Haus in Löbejün. Wie sieht es dort aus? Im Moment sei dort, berichten die Besucher, noch eine Baustelle. Porsche erwähnt auch Verzögerungen und technische Probleme. Die Kommune müsse mit jedem Euro genau rechnen. Glücklicherweise seien Fördermittel des Landes avisiert. Porsche: "Wenn alles klappt, öffnet das Museum 2013." Ein ausgeklügeltes Konzept werde die Neugierigen künftig bis unters Dach führen. Dort öffnet sich ihnen dann die Schatzkammer. Still lächelnd vernimmt Lilburn die Einladung, bei der Eröffnung dabei zu sein. Der alte Mann ist offenkundig zufrieden - und schaut auf die Westminster-Uhr.
Tee-Zeit, nach dem ersten Schluck kommt der 84-Jährige zur Sache. Seine größte Sorge sei, gesteht er, dass seine private Sammlung eines Tages womöglich noch in falschen Hände gerät. Deshalb habe er sich entschlossen, den Fundus den Loewe-Freunden in Löbejün zu übergeben. "Ich kann mir keinen besseren Platz auf der Welt vorstellen, meine Herren." In Löbejün habe der Meister das Licht der Welt erblickt, in Löbejün werde auch sein Erbe bewahrt - seit mehr als 140 Jahren, trotz zeitweise widriger Umstände.
Als Entdecker unterwegs
Lilburns weiß, wovon er spricht. Seine Abstecher nach Löbejün sind ihm noch in bester Erinnerung. 15 Jahre ist es her, da der international geachtete Adelsforscher - Spezialgebiet: die russische Zarenfamlie - erstmals in Sachsen-Anhalt auf den Spuren Loewes unterwegs gewesen ist. Halle zum Beispiel gilt als Entstehungsort von 50 seiner Kompositionen. Dazu gehören viele vertonte Balladen, die ihn bald deutschlandweit berühmt machen. Klassiker jener Zeit: das Erlkönig-Lied und der Edward-Hymnus. Lilburn zufolge gibt es dabei viele Berührungspunkte mit der Sagenwelt seiner schottischen Heimat, was ihn immer wieder stark berühre.
Vieles wäre noch zu sagen, doch der Spender gibt sich einen Ruck. Er ist sich jetzt seiner Sache sicher. Er vertraut Porsche und Co. eine Lkw-Ladung an, 15 Kisten. Einige Behältnise tragen den Warnhinweis "Vorsicht Glas". Ihr Inhalt ist zerbrechlich, es handelt es sich um Schellack-Platten Insgesamt 2 000 Stück, jene aus Übersee, andere aus Japan und dieser Stapel stammt von Labels und Rundfunkanstalten. Manche Exemplare kosten mehr als 4 000 Dollar, so eine Aufnahme mit dem Sänger Wilhelm Strienz aus den 1930er Jahren. Hinzu kommen historische Notenblätter, Drucke und eine musikwissenschaftliche Bibliothek.
Als sich das Tor hinter den London-Reisenden schließt, klingt Musik aus dem geöffneten Fenster. Porsche muss nicht raten, was da zu hören ist. Er weiß es. "Archibald Douglas" von Carl Loewe - es ist Lilburns Lieblingsaufnahme.