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Als Halle aufatmete Als Halle aufatmete: Was der Stadtarchivar zum Weltkriegsende vor 75 Jahren sagt

20.04.2020, 11:45
Amerikanische Soldaten im April 1945 in Halle - der „Seeteufel“ Luckner (zweiter von links) hatte mit den Kommandanten verhandelt.
Amerikanische Soldaten im April 1945 in Halle - der „Seeteufel“ Luckner (zweiter von links) hatte mit den Kommandanten verhandelt. Archiv Maurer

Halle (Saale) - Am 19. April 1945 war der Krieg in Halle beendet, atmeten die Menschen auf. Die amerikanischen Truppen übernahmen an diesem Tag die Hoheit über die Stadt, die sich kampflos ergeben hatte. Seitdem erlebt Halle die längste Friedensperiode in der Stadtgeschichte. Über das Kriegsende hat die Mitteldeutsche Zeitung mit Stadtarchivar Ralf Jacob gesprochen, der zudem auch zweiter Vorsitzender des Vereins für hallische Stadtgeschichte ist. Das Gespräch führte MZ-Redakteurin Silvia Zöller.

Herr Jacob, vor genau 75 Jahren war der Zweite Weltkrieg im Bereich der Stadt Halle beendet. Wer hatte nach den aktuellsten historischen Forschungen nun den größten Anteil daran, dass Halle weitgehend von einer Zerstörung verschont geblieben ist?
Ralf Jacob: Anders, als die anderen deutschen Großstädte, blieb Halle von Flächenbombardements verschont. Hier sehe ich mehrere Handlungsstränge. Im April 1945 erreichten amerikanische Truppen vom Norden her Halle und leiteten damit auch hier das Ende des 2. Weltkriegs ein. Da gibt es den militärischen Widerstand. Am 14. April 1945 weigerte sich Hauptmann Fritz Hartnagel (1917-2001), den in den Kasernen der hier befindlichen Luftnachrichtenschule stationierten Truppen den Befehl zur Fortsetzung der Kämpfe gegen die US-Armee zu geben.

Sein Adjutant, Oberleutnant Alfred Bauer (1916-1945), wurde bei dem Versuch, das Leben von Fritz Hartnagel zu beschützen, von deutschen Soldaten erschossen. Von vielleicht entscheidender Bedeutung war nach meiner Einschätzung das Bemühen mehrerer Zivilisten und Verantwortungsträger, in Verhandlungen mit den amerikanischen Befehlshabern vor Ort, eine friedliche Übergabe der Stadt zu erreichen. Zu Ihnen gehörte mit Felix Graf Luckner einer der damals bekanntesten Hallenser überhaupt.

Seitdem hat es in Halle eine so lange Friedensphase wie noch nie gegeben - was waren Gründe für frühere Kriegshandlungen und was können wir heute daraus lernen?
Jacob: Ein Erklärungsansatz kann vielleicht die Einbindung der Stadt und des Staates in internationale Bündnissysteme sein, die regionale kriegerische Auseinandersetzungen so lange verhindern konnten.

Wie war die Lage unmittelbar nach dem Einzug der amerikanischen Truppen in Halle?
Jacob: Es war eine Situation, die von viel Unsicherheit geprägt war. Die Hallenser bewegten solche Fragen, wie kann ich meine Familie und mich heute und in den nächsten Tagen ernähren, wie kann ich meine Wohnung beheizen, kann ich meine Wohnung überhaupt weiter benutzen, oder muss ich Platz für Einquartierungen machen, wie kann ich meinen Betrieb, mein Gewerbe weiterführen? Das Leben insgesamt war unsicher, konnten doch jederzeit Verhaftungen durch die Besatzungsmacht erfolgen.

Während zahlreiche NSDAP-Funktionsträger von den Amerikanern verhaftet und ihres Amtes enthoben wurden, ernannte die Militärregierung ausgerechnet den amtierenden Oberbürgermeister und NSDAP-Mitglied Paul May zum ersten kommissarischen Oberbürgermeister der Stadt. Was waren damals die Gründe dafür und wie ist das aus heutiger Sicht zu beurteilen?
Jacob: May galt als minderbelastet, er war NSDAP-Mitglied erst seit 1938 unter der Nummer 4.979.095, also zu einem relativ späten Zeitpunkt. Darüber hinaus waren über ihn keine weiteren Verstrickungen in das NS-Terrorregime bekannt. Für seine demokratische Haltung sprach darüber hinaus, dass er als Mitglied der Deutschen Volkspartei (DVP) durch die Bevölkerung von Halle 1932 zu ihrem zweithöchsten Stadtoberhaupt gewählt wurde.

Im Falle Mays ist im Übrigen anhand der überlieferten Quellen weder nach 1933 noch nach seinem Parteieintritt eine Verwendung von nationalsozialistischer Redeweise oder Propaganda erkennbar. Hierbei ist jedoch auch zu beachten, dass er als Zweiter Bürgermeister eher keine öffentlichen Auftritte wahrzunehmen hatte.

Sind im Stadtarchiv Berichte überliefert, wie die Hallenser den amerikanischen Soldaten begegnet sind, auch im Gegensatz zu den russischen Truppen, die ab Anfang Juli aufgrund der alliierten Vereinbarungen das Sagen auch über die Stadt Halle bekamen?
Jacob: Solche Berichte liegen uns glücklicherweise vor. Zum einen unmittelbar für die letzten Kriegstage und zum anderen für den Alltag der Besatzung durch amerikanische und sowjetische Truppen. Aus den Berichten spricht die Freude und Erleichterung über das Kriegsende, aber auch die Belastungen durch die Alliierten. Neben Beschlagnahmungen von Wohnraum und Wirtschaftsgütern gab es Vergewaltigungen und Diebstähle durch Militärangehörige beider Nationen.

Während des Krieges wurden mehr und mehr Zeitungen in Deutschland eingestellt. In welchen Zeitungen konnten sich Hallenser ab wann nach Kriegsende wieder über das Geschehen vor Ort informieren?
Jacob: Es erschienen ab dem 6. September 1945 das „Volksblatt“ als Sozialdemokratische Tageszeitung für Halle und den Bezirk Merseburg, herausgegeben von der SPD für die Provinz Sachsen und bereits ab dem 25. Juli 1945 die „Volkszeitung“ als Organ der KPD für die Provinz Sachsen, herausgegeben von der Bezirksleitung der KPD für die Provinz Sachsen. Darüber hinaus veröffentlichte die Stadtverwaltung ab dem 7. August 1945 regelmäßige „Bekanntmachungen des Magistrats der Stadt Halle (Saale)“.

75 Jahre Frieden in Halle – aufgrund der Corona-Krise sind dazu keine Veranstaltungen möglich. Soll das über den Verein für hallische Stadtgeschichte nachgeholt werden?
Jacob: Der Verein wird in seiner Ausgabe 2020 des Jahrbuches für Stadtgeschichte dieses Thema aufgreifen. Ich werde einen Quellenbericht unter dem Titel „75 Jahre Kriegsende im Raum Halle“ erstatten. (mz)