Abrisspläne in Halle Abrisspläne in Halle: Das Künstlerhaus 188 und die Enge

Halle/MZ - Der Kampf war eigentlich schon entschieden und einmal mehr hatte die Geschichte verloren. Das rund 120 Jahre alte Gebäude der Weingärtenschule in Halle, gelegen im Stadtteil Glaucha unweit der Saale, würde nach dem Willen der Stadtverwaltung einer neuen Straßenbahntrasse weichen müssen. Die darf, um Fördermittel beantragen zu können, nicht mehr wie bisher straßenbündig verlaufen, sondern muss einen eigenen Gleiskörper bekommen. Weil der vor dem dreistöckigen Ziegelbau vorhandene Platz dafür aber nicht ausreicht, bleibt nur der Abriss.
Eine Logik, die bisher unwidersprochen blieb. Es geht um Geld, um viel Geld sogar. 3,8 der geschätzten Baukosten von 4,35 Millionen Euro müsste die klamme Stadtkasse nicht selbst bezahlen, wenn Fördermittel nach dem sogenannten Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) fließen.
Ein Argument, das Bürgerinnen und Bürger offenbar mehr überzeugt als der Aufruf von Abrissgegnern, die binnen zweier Monate nur ganze 1?200 Menschen dazu bringen konnten, eine Internetpetition gegen den Abriss zu unterzeichnen. Finanzausschuss und Planungsausschuss des Stadtrates haben ihren Segen bereits erteilt. Auch vom Denkmalschutz kommt kein Widerspruch: Nach einer Abwägung aller Interessen könne er hier „zurückstehen“, heißt es.
Arbeiterviertel Glaucha
Das „Vorhaben 5.1 Böllberger Weg Nord“ ist inzwischen ausgeschrieben, offen nur noch der Zeitpunkt, an dem die Bagger anrücken. Ausgerechnet jetzt aber melden sich Prominente zu Wort, die der Zwangsläufigkeit einer Zerstörung des vom Architekten Anton Kreke entworfenen Klinkerbaus widersprechen: Neben dem halleschen Maler Moritz Götze macht sich mit dem Liedermacher, Dichter und Sänger Wolf Biermann auch ein Mann für das heute als Künstlerhaus 188 bekannte Gebäude stark, den sein hallescher Urgroßvater Karl Schimpf mit Halle, insbesondere aber mit dem Arbeiterviertel Glaucha verbindet. Die Familie des späteren DDR-Staatsfeindes Nummer?1 war eng befreundet mit der Familie der späteren First Lady der DDR, Margot Honecker, die in der nahen Torstraße aufwuchs und in der Weingärtenschule Lesen, Schreiben und Rechnen lernte.
„Für immer Ferien?“, heißt das in der Reihe Mitteldeutsche kulturhistorische Hefte erschienene Bändchen, das eigentlich zum 120.?Geburtstag des Schulgebäudes dessen Geschichte und architektonische Bedeutung beschreiben sollte und nun zum Nachruf zu werden droht.
Als quasi „hallenser Heimatdichter“ (Biermann über Biermann) hat der Wahlhamburger es sich nicht nehmen lassen, für das Büchlein, das jetzt im Hasenverlag erschienen ist, einen „Prolog“ zu verfassen. In Biermanns Augen ist das dreistöckige Haus, Anfang des vergangenen Jahrhunderts eine der ersten nicht-konfessionellen Schulen in Mitteldeutschland, ein Platz der Geschichte, der bewahrt gehört, weil es bis heute das Leben erahnen lässt, das die Menschen in Biermanns berühmter „Moritat auf seine Oma Meume“ führten: in Enge, arm und krank.
Die große Kurve
Die DDR wollte das aufreißen, wollte die Infrastruktur optimieren und die Stadt verkehrsgerechter machen. „Halle hatte im II.?Weltkrieg im Verhältnis zu anderen Städten geringe Kriegsschäden“, sagt Moritz Götze, „doch die Verluste durch die verheerenden 70er und 80er Jahre und die Nachwendezeit waren gewaltig.“ Mit dem Abriss der Weingärtenschule werde nun bald erneut ein Mosaikstein im Stadtbild fehlen. Ein „nicht wieder gut zumachenden Verlust“, wie Götze findet, „zumal ein Nebeneinander von Straßenbahnführung und PKW-Verkehr nicht das Lebensgefühl von Halle verbessert“. Städte mit optimaler Infrastruktur seien ganz im Gegenteil „nicht selten hässliche und wenig lebenswerte Städte.“
Die große Kurve, die die Stadtväter am Böllberger Weg planen, könnte nach Ansicht der Buchautoren Dieter Dolgner, Hans-Christian Riecken und Simone Trieder genau in die Tristesse führen, die der Schriftsteller Heinz Czechowski Mitte der 70er beschrieb, nachdem er das Verschwinden der Gassen von Glaucha beobachtet hatte.
Ist die große Lösung dennoch alternativlos? Muss der Stadtrat bei seiner morgigen Sitzung zustimmen? Ist der schnellere Verkehr den Preis wert, ein Stück Geschichte zu tilgen? Zwingen unabänderliche Regularien die Stadt tatsächlich in einen Akt der Selbstamputation? Obwohl doch zum Beispiel Erfurt seine innerstädtische Neubaustrecke zwischen Benaryplatz und Domplatz mit Fördermitteln gebaut hat - und das straßenbündig?
„Für immer Ferien?“ Hasenverlag, Halle, 48 Seiten, mit Abb., 8,90 Euro