MZ-Serie „Lebenswege“ Wie eine Goldschmiedin aus Halle in der DDR mit nur 30 Gramm Gold pro Jahr arbeiten musste
Gertraud Graf ist in dritter Familiengeneration Goldschmiedemeisterin. Vor und nach der Wende hat sie als Selbstständige gearbeitet. Diese Freiheit war ihr wichtig.
Halle (Saale)/MZ - Die hölzernen Flügeltüren zum einstigen Geschäft sind sperrig, lassen sich nur mit Mühe öffnen. Innen hängen Meisterbriefe an den Wänden, der jüngste stammt von Anfang November dieses Jahres. Es ist die diamantene Auszeichnung für Gertraud Graf, die 1962 in Halle ihre Meisterprüfung als Goldschmiedin ablegte und 36 Jahre als selbstständige Handwerkerin arbeitete.
Die 81-Jährige hat Geschmack, weiß das Schlichte mit dem Aufregenden stilvoll zu kombinieren. Zum schwarzen Pulli trägt sie einen breiten, goldenen Halsreif – eine Arbeit aus ihren Händen. „Ein Goldschmied erschafft etwas Individuelles, keine industrielle Massenware. Mit unseren Kunden sind wir dadurch in besonderer Weise verbunden“, sagt sie.
- Teil 1 - Das verspricht sich Halle vom neuen Zukunftszentrum
- Teil 2 - Wie ein Pfarrer aus Halle zum Top-Dissidenten in der DDR wurde
- Teil 3 - Wie ein Fahrradhändler aus Halle nach der Wende zum Öko-Vorreiter geworden ist
- Teil 4 - Warum Wolfgang Tischer 1965 als Wessi in die DDR übersiedelte
- Teil 5 - Wie eine Ärztin aus Halle mit 19 D-Mark den Neuanfang im Westen wagte
- Teil 6 - Warum ein stadtbekannter Politiker in Halle die Wende als großen Gewinn bezeichnet
- Teil 7 - Was eine Lehrerin in der DDR besser als heute fand
- Teil 8 - Wie eine Goldschmiedin aus Halle in der DDR mit nur 30 Gramm Gold pro Jahr arbeiten musste
- Teil 9 - Wie ein junger Soldat aus Halle dem Stasi-Wachregiment „Feliks Dzierzynski“ den Rücken kehrte
- Teil 10 - Wie ein Buchhändler aus Halle die Wende als Soldat in einer NVA-Kaserne erlebte
- Teil 11 - Wie ein Punk aus Halle in der DDR mit den Repressionen des Staates zu kämpfen hatte
- Teil 12 - Wie ein Denkmalschützer aus Halle mit der Abriss-Politik der DDR zu kämpfen hatte
- Teil 13 - Wie eine junge Frau in den 1980er Jahren mit der Kamera gegen Abrissbagger in Halles Altstadt antrat
Die Goldschmiede-Familiendynastie beginnt 1888
Die Goldschmiededynastie Lutze/Graf gehört zu den traditionsreichen Kunsthandwerkerfamilien Halles. Wilhelm Lutze (1874– 1955) hatte 1888 in Buxtehude seine Lehre begonnen, war danach jahrelang auf der Walz durch Deutschland gezogen und 1910 der Liebe wegen in Halle sesshaft geworden. Und wäre es nach ihm gegangen, wäre seine Enkelin Gertraud wohl nie in seine Fußstapfen getreten. „Er war der Meinung, dass der Beruf für eine Frau zu schwer sei“, erzählt sie.
Die junge Gertraud ist begabt und die junge Gertraud schwankt zunächst, was ihren Berufswunsch betrifft. Anfangs liebäugelt das sportliche Mädchen in den Nachkriegsjahren damit, ein Sportfach zu studieren. Doch die intelligente Schülerin hat die Gene ihres Opas und goldene Hände. Sie bastelt, häkelt, zeichnet. Als sie nicht an die Erweiterte Oberschule darf, weil sie kein Arbeiterkind ist, macht die 14-Jährige aus der Not eine Tugend. Sie beginnt 1955 bei Friedrich Fehse im Süden Halles ihre Lehre als Goldschmiedin und legt 1962 erfolgreich ihre Meisterprüfung ab – als Einzige in ihrem damaligen Jahrgang.
Goldschmiede gehören in der DDR zu den wenigen Berufsgruppen, die nicht der Verstaatlichung zum Opfer fallen. Zwar gibt es auch Volkseigene Betriebe, die VEB, in denen Gertraud Graf arbeiten könnte, „aber das wollte ich nie“. Als Fehse 1965 stirbt, übernimmt sie als 24-Jährige die Werkstatt und den Laden in der Beesener Straße. „Die Staatsmacht hat mich in Ruhe gelassen. Als Selbstständige war ich mein eigener Chef. Und ich war in gewisser Weise auch frei. Politik hat mich weniger interessiert.“ Doch die Arbeit ist nicht nur filigran. Sie ist tatsächlich auch körperlich so schwer, wie es der Großvater sagte. Um Edelmetall zu hauchdünnen Plättchen zu walzen, so dass es verarbeitet werden kann, braucht der Goldschmied Kraft. Für die zierliche Frau kein leichtes Unterfangen. „Als mein Chef noch lebte, haben wir zusammen mit Kurbeln die beiden Walzen gedreht. Elektrische Unterstützung gab es da noch nicht.“ Später müht sie sich alleine ab, bis ihr ältester Sohn Andreas, ein Maschinenbauer, die Walze mit einem elektronischen Antrieb versieht. Die eigentliche Arbeit reicht der zweifachen Mutter schon damals nicht mehr aus. Sie erhält die Anerkennung als „Kunstschaffende im Handwerk“. Ihre Motivation: die alte Handwerkstechnik zu bewahren, sie nicht den Maschinen zu opfern. Und filigrane Schmuckstücke zu erschaffen, die selbst im Arbeitsalltag in der DDR ansonsten unrentabel gewesen sind – zu hoher Aufwand, zu wenig Ertrag.
Gold gibt es kaum, Silber in Mengen
Apropos Ertrag. Die Mangelwirtschaft der DDR macht um Goldschmiede keinen Bogen. Silber gibt es zur Genüge, auch günstiger als im Westen. Doch Gold ist rationiert. 30 Gramm bekommt jeder Goldschmied pro Jahr – ein Witz. „Die Kunden haben zum Glück ihr Altgold mitgebracht, das ich verarbeitet habe.“ Gertraud Graf entwirft die Stücke nach den Wünschen der Auftraggeber. Sie zeichnet Vorlagen für Ringe und Ketten. Das Altgold schmilzt sie ein und legiert es. Später übernimmt das die Münze in Berlin.
Die Goldschmiedin in dritter Generation leitet in den 1970er Jahren quasi unfreiwillig ihre Nachfolge ein. Für die beiden Söhne Andreas und Gunther Krippen- und Kita-Plätze zu bekommen, wird zum Geduldsspiel. Als Selbstständige bleibt sie ein Jahr mit beiden Säuglingen zu Hause – seinerzeit machten das nur Angestellte. Gunther nimmt sie mit in die Werkstatt. Der Junge wächst quasi mit dem Beruf der Mutter auf und ist mittlerweile Goldschmied in vierter Generation. „Mich macht das sehr glücklich. Und ich hoffe, dass auch meine Enkelinnen die Tradition vielleicht fortsetzen“, sagt sie.
Mit der Wende muss auch Gertraud Graf neu anfangen. Statt 62,50 DDR-Mark Miete pro Monat soll sie nun 2.500 D-Mark für den Laden in der Beesener Straße zahlen. Kurzerhand richtet sie sich in der Garage am Wohnhaus in Trotha ihr neues Domizil ein. „Alle haben geholfen. Mein Mann, die Kinder. Das war klasse.“ Sie erzählt wieder von ihrem Opa Wilhelm. Er habe – als Spruch eingearbeitet auf einer kunstvollen Schale – der Familie sein Lebensmotto hinterlassen, das bis heute gültig sei: „Ob mühsam und weit der Weg dieser Zeit, verzagen wir nicht, der Nacht folgt das Licht.“