15. April 1945 15. April 1945: Stunde der mutigen Männer
Halle/MZ. - Die Gruppe um den Universitätsprofessor Theodor Lieser erreichte es, dass am Domplatz und andernorts weiße Betttücher auf den Dächern ausgelegt oder aus den Fenstern gehängt wurden. SS-Streifen feuerten in diese Fenster. Es galt Himmlers "Flaggenerlass", demzufolge die erwachsenen männlichen Einwohner des Hauses zu erschießen seien, in denen die Fahne der Kapitulation gezeigt werde. So war der bedeutsamen Weiße-Fahnen-Aktion nur ein begrenzter Erfolg beschieden.
Frauen in großer Angst
Die Menschen waren ungeheuer erregt. Vor kurzem hatten sie zwei schwere Luftangriffe erlebt, die vornehmlich das Bahnhofsviertel in Mitleidenschaft gezogen hatten, aber jetzt drohte die totale Vernichtung. Aus dem Arbeiterviertel Glaucha drangen Frauen mit ihren Kindern zum Markt, zum Gefechtsstand des Kampfkommandanten Generalleutnant Anton Radtke vor. Eine Frau schrie: "Meinen Mann hat mir der Krieg genommen, meine Kinder will ich behalten!" Der bekannte Frauenarzt und Landesvorsitzende des Roten Kreuzes, Dr. Nikolaus Weins, überbrachte Radtke die Forderung der Frauen, Halle zur offenen Stadt zu erklären. Aber der ließ den Platz mit Gewalt räumen.
Inzwischen bahnte sich eine Wende an. Der Standortälteste der Lazarette in Halle, Dr. Carl Moritz Seeland, hatte nochmals den Kampfkommandanten aufgesucht und ihm den klugen Vorschlag unterbreitet, den Norden Halles kampflos zu räumen und zugleich dem Führerhauptquartier zu melden, dass Halle erbittert verteidigt würde, allerdings nur der südlich der Franckeschen Stiftungen gelegene Teil. Radke sicherte zu, "mit seinem Stab zu verhandeln". Seeland misstraute und entsandte des öfteren Abordnungen, um den Stand der Dinge zu erkunden. Endlich erschien ein Offizier mit einer Karte, auf der die Linie Lange Straße-Waisenhausring-Königsstraße (verlief bis Raffineriestraße) eingezeichnet war, hinter der sich die deutschen Truppen in der Nacht zum 17. April zurückziehen sollten.
Damit war viel erreicht. Dr. Seeland ging mit dieser Karte sofort zu Oberbürgermeister Weidemann in die Moritzburg, wo sich auch der Direktor des Elisabeth-Krankenhauses, Prof. Dr. Walter Hülse, aufhielt. Anwesend war Felix Graf von Luckner, dem der OB zuvor den Auftrag erteilt hatte, aus Volkssturmmännern und Luftschutz-Angehörigen einen städtischen Sicherheitsdienst "gegen Fremdarbeiter und Pöbel" aufzubauen. Die Kleinarbeit übernahm hierbei der Major a. D. Karl Huhold. Lieser und Oberst Baltersee befanden sich ebenso bei Weidemann. Diese Gruppe entschlossener Männer verlangte vom Oberbürgermeister, dass sich Radtkes Truppen nach Süden absetzen und dann den amerikanischen General Terry Allen von der neuen Sachlage zu unterrichten. Weidemann beauftragte den Grafen Luckner, diese gefahrvolle Mission zu übernehmen und begleitete ihn zum Kampfkommandanten. Es gelang den beiden, allein mit dem General zu sprechen. Radtke stimmte Verhandlungen mit den Amerikanern zu, sagte aber: "Fahren Sie ruhig hin, aber ich darf nichts davon wissen." So wollte er beim Führerhauptquartier die Fiktion aufrechterhalten, Halle würde bis zum Letzten verteidigt.
Keine sicheres Mandat
Luckner fuhr also mit einem nicht abgesicherten Mandat am 16. April gegen 16 Uhr in Begleitung von Major Huhold in einem mit Rote-Kreuz-Fahnen versehenen Sanitätskraftwagen durch die amerikanischen Linien und gelangte zunächst zu Colonel Gerald C. Kelleher, der ihm mitteilte, er habe das Äußerste getan, um Halle zu retten und zehn Minuten vergeblich mit Radtke geredet. Dann sprach Luckner mit General Allen. Der war empört, dass ihn Radtke 36 Stunden ohne Antwort auf sein Ultimatum gelassen hatte. Seine Geduld sei am Ende, so Allen, er wolle keinen Soldaten mehr verlieren. 700 Bomber und 250 Jagdbomber stünden bereit, um Halle den Erdboden gleich zu machen. Luckner verwies auf die entsetzliche Lage der Verwundeten, Flüchtlinge und Ausgebombten. Allen weigerte sich, den um Mitternacht angesetzten Startbefehl zurückzunehmen.
In drei Wellen sollten die Bomber die Bevölkerung zunächst mit Sprengbomben in die Keller treiben. Dann würden neuartige Phosphorbomben eingesetzt, die bis in die Keller durchschlügen, eine Feuersbrunst entstünde, die Sauerstoffmangel bewirke. Die Amerikaner nahmen an, dass 30 bis 40 Prozent der 250 000 Einwohner sterben. Halle drohte das Schicksal Dresdens. Luckner gab jedoch nicht auf.