"Zukunftsatlas 2019" wirft Fragen auf "Zukunftsatlas 2019" wirft Fragen auf: Dessau-Roßlau im Mittelfeld mit Hagen und Coburg

Dessau-Roßlau - Dem Wachstum sind Grenzen gesetzt - und zwar von Volme, Lenne, Ennepe und Ruhr. Hagen, 189.000 Einwohner, am Rand des Ruhrgebiets gelegen, ist von vier Flüssen umgeben und liegt in hügeliger Landschaft. Da kann man nicht einfach mal neue Baugebiete ausweisen, sei es fürs Wohnen, fürs Gewerbe oder für die Industrie.
Hagen mag weit weg sein von Dessau-Roßlau - und doch sind beide Städte seit neuestem Nachbarn, wie auch der Landkreis Coburg. Im „Zukunftsatlas 2019“ des Prognos-Instituts kommt der Landkreis Coburg auf Rang 352 unter den 401 Landkreisen und kreisfreien Städten Deutschlands, Dessau-Roßlau auf 353 und Hagen auf 354. Seit 2004 veröffentlicht das zur Holtzbrinck-Gruppe (u.a. „Handelsblatt“) gehörende Institut seine Studien, die sich stets hoher medialer Aufmerksamkeit erfreuen.
29 Indikatoren für jede kreisfreie Stadt und jeden Landkreis auserwählt
Man kann den Prognos-Forschern nicht vorwerfen, zu wenig Mühe auf ihre Bestenliste verwendet zu haben: Für jede kreisfreie Stadt, für jeden Landkreis ziehen sie insgesamt 29 Indikatoren heran, von der Geburtenrate über den Anteil Hochqualifizierter, das Bruttoinlandsprodukt je Beschäftigtem, die Patent-Intensität bis zur Kaufkraft. Manche Daten spielen eine Entwicklung seit dem drei Jahre zuvor veröffentlicht Bericht wider, andere sind Schnappschüsse zu einem speziellen Stichtag. Das alles wird miteinander verrechnet. 2019 ist München Klassenbester in Deutschland, während Stendal auf Platz 401 landet.
Dessau ist erfahren mit solchen Ranglisten. 2016 ist die Stadt im „Erfolgsatlas“ des „Focus“ auf dem 402. und damit letzten Platz gelandet. Das sicherte der Stadt Aufmerksamkeit, ein paar Reportagen und vor allem eine Debatte über das Zustandekommen solcher Liste. Die Aufregung ist geringer geworden, seit sich Dessau-Roßlau in der „Focus“-Liste im Jahr 2018 auf Platz 357 „vorgearbeitet hat“.
Coburg ist trotz ihrer nur 41.000 Einwohner kreisfrei und Sitz großer Unternehmen
So ausgefeilt der Algorithmus der „Prognos“-Experten sein mögen, auch sie haben eine Schwäche: Gebietskörperschaften sind in Deutschland völlig unterschiedlich zugeschnitten. Der Landkreis Lüchow-Danneberg zählt etwa 48.000 Einwohner, die einem Landkreis gleichgestellte „Region Hannover“ 1,1 Millionen Einwohner. Auch wenn die pure Einwohnerzahl bei den „Prognos“-Berechnungen nicht ins Gewicht fällt, sind Verzerrungen unvermeidlich.
Um die Dessauer Kirchturmperspektive zu verlassen, ist es nützlich, mit Wolfgang Braunschmidt zu telefonieren, bei der Neuen Presse in Coburg Leiter der Lokalredaktion. Warum der Landkreis Coburg bei „Prognos“ so schwächelt? Für ihn ist das recht einfach erklärt: „Im Landkreis wird gewohnt und in der Stadt gearbeitet.“ Und das Offensichtliche ist in diesem Fall aus „Prognos“-Sicht ein Problem.
Die Stadt Coburg (Platz 106) ist trotz ihrer nur 41.000 Einwohner kreisfrei und Sitz großer Unternehmen. Allein der Versicherer HUK-Coburg zählt 6.000 Mitarbeiter, der Automobilzulieferer Brose 2.500. Im Landkreis mit fast doppelt so vielen Einwohnern gibt es hingegen kaum Arbeitsplätze. Würde die Stadt im Kreis aufgehen, fände sich der neue Landkreis wohl in der Mitte des Rankings - ohne dass sich vor Ort irgendwas verändert hätte.
Städte mit Universitäten und großen Verwaltungen seien bei diesem Ranking immer im Vorteil
Er geht noch weiter: Coburg, Sonneberg und Hildburghausen sind trotz der bayrisch-thüringischen Landesgrenze längst ein Wirtschaftsraum. Betrachtet man diesen insgesamt, relativieren sich die demographischen Probleme des Landkreises Coburg. Nach der Grenzöffnung war er Ziel vieler Ostdeutscher aus dem Kreis Sonneberg, mit dem Wirtschaftsaufschwung dort sind sie wieder zurückgekehrt. Unter dem Strich ergibt sich ein Nullsummenspiel - würde der Zukunftsatlas Wirtschaftsräume statt Gebietskörperschaften betrachten.
Andreas Lux ist stellvertretender Geschäftsführer der Südwestfälischen IHK mit Sitz in Hagen. Er will angesichts der „Prognos“-Platzierung nicht ins Jammern verfallen. Städte mit Universitäten und großen Verwaltungen seien bei diesem Ranking immer im Vorteil – Hagen, immer noch gebeutelt von der Stahlkrise der 1970er Jahre, vermag mit seiner Fernuni und zwei kleineren Hochschulen nicht mithalten.
„Man kann grundsätzlich hinter diese Studie Fragezeichen setzen.“ Und was den fehlenden Platz für Bau- und Industriegebiete angeht: „Wir werden unsere Hügel um die Stadt nicht plattieren.“ Denn, so sagt es Lux: „Wir sind die grünste Großstadt Deutschlands.“
Prognos: „Wo eine starke Wirtschaft ist, da geht es den Menschen gut, da steigt die Kaufkraft“
Für Kathleen Freitag, Projektleiterin bei „Prognos“ im Bereich Bereich Wirtschaft und Region, wäre dies wohl eher ein zu vernachlässigendes Argument. Sie verteidigt das Denken in Gebietskörperschaften ebenso wie die rein wirtschaftlich ausgerichtete Betrachtungsweise: „Wo eine starke Wirtschaft ist, da geht es den Menschen gut, da steigt die Kaufkraft.“ Umweltfragen sind für sie „ein anderes Thema“.
Insofern sind die Landkreise Regen (Platz 342) und Freyung-Grafenau (Platz 206) irgendwie selbst schuld, nicht besser im Ranking abzuschneiden, denn in ihnen liegt der Nationalpark Bayrischer Wald. Und der ist in der „Prognos“-Logik keinen Pfifferling wert. Und auch Dessau-Roßlau wird es schwer haben, weiter nach vorn zu kommen.
Immerhin: Im Bereich Arbeitsmarkt kommt die kreisfreie Stadt auf Platz 208, es ist das beste Einzelergebnis. Im Bereich Innovation reicht es nur zu Platz 374. Das wundert nicht, wenn man weiß, dass dort Bruttoinlandsprodukt je Beschäftigten, Gründungsintensität und Patentintensität mit einfließt und die Anzahl der Top 500 Unternehmen, weiß man, wie schwierig es für eine Stadt ist, weiter nach vorn zu rutschen. (mz)