Auto-Tüftler startete vor 125 Jahren Opel vor 125 Jahren: Erstes Modell Pfeil 1 kam aus Dessau

Dessau-Roßlau - Alles noch echt! Geradezu liebevoll streicht Lothar Bebber über das brüchige Leder des Oldtimers. Dann schwingt sich der korpulente Mann hinauf auf die Ledersitze vom „Pfeil 1“.
Seine Augen strahlen, als er beginnt, von dem 125 Jahre alten Auto zu reden, das aussieht wie eine Kutsche ohne Pferde. „Damit fing es an“, sagt der Dessauer Autohaus-Besitzer Bebber, „ohne den Pfeil gäbe es Opel heute nicht.“
Denn die technischen Wurzeln der Marke liegen in Dessau. In diesem Jahr feiert Opel in turbulenten Zeiten das 120-jährige Firmenjubiläum. Man weiß in Rüsselsheim noch nicht ganz genau, welche Autos der Marke mit dem Blitz es künftig noch geben wird.
Denn Opel ist 2017 vom französischen Autokonzern PSA (Peugeot/Citroën) aufgekauft worden. Der will die deutsche Traditionsfirma dauerhaft aus den roten Zahlen führen, Forschung und Produktion für beide Marken effektiver organisieren. Im ersten Halbjahr 2018 gab es erstmals wieder einen Gewinn. Aber noch ist Opel unterwegs, seinen endgültigen Platz im neuen Haus zu finden.
Opel: Geschichte des Autokonzerns begann in Dessau
Mit dem Auto, das Bebber in seinem Autopark Dessau-Roßlau stehen hat, fing alles an bei Opel. Es wurde von Friedrich Lutzmann 1894 entworfen und gebaut. „Dabei hatte der anfangs mit Autos nichts am Hut“, sagt Bebber. Denn Lutzmann ist Kunstschmied, Spengler, Bauschlosser und darf sich in Dessau „Hofschlossermeister“ nennen.
Spuren des Kunstschlossers Lutzmann finden sich heute noch in der Dessauer Wasserstadt. Der verschnörkelte, schmiedeeiserne Zaun rings um die Villa Krötenhof - ein soziokulturelles Zentrum, vormals Residenz von Kommerzienrat Meiner - stammt von Lutzmann.
Dass er der Opel-Urvater ist, weiß kaum jemand. Das ärgert Bebber mächtig. Kein Denkmal, auch nicht in seinem Geburtsort Nienburg. Nur auf seinem Grabstein auf dem Dessauer Friedhof III ist sein Verdienst eingemeißelt: „Dem Pionier des deutschen Kraftwagenbaues, Friedrich Lutzman, 1859 - 1930“.
Opel-Urvater Lutzmann aus Dessau: Von Carl Benz inspiriert
„Lutzmann gehört zu den weitgehend vergessenen Pionieren der deutschen Technikgeschichte“, sagt Uwe Mertin, Chef von „Opel Classic“ in Rüsselsheim.
Das liege wohl auch daran, dass das Leben des Dessauers als Autobauer nur acht Jahre dauerte. Wenigstens hat die Stadt eine Straße nach ihm benannt, ein triste Ecke. Fast unbebaut ist die Gegend, eine Industriebrache, auf der zu DDR-Zeiten u.a. der VEB Gärungschemie stand.
Das einzige große Haus, das heute hier steht, ist das von „Heusser Elektrotechnik“ - nur wenige hundert Meter entfernt von der Askanischen Straße 125, wo Friedrich Lutzmann damals seine erste Schlosserwerkstatt betreibt.
Den kenne er als Handwerker natürlich, das mit Opel wisse er auch, sagt Uwe Heusser. Gefreut habe er sich mächtig, als die Stadt nach dem Mauerfall 1989 seiner kleinen, schmucklosen Straße - sie ist keine 200 Meter lang - den Namen des Konstrukteurs gab.
Unweit von hier liest der Kunstschmied vom ersten Auto der Welt, 1886 von Carl Benz entwickelt. Da horcht der herzogliche Kutschenwart auf.
Als er am 28. April 1893 dann sieht, wie der Leipziger Unternehmer Fritz Kühne mit einem „Benz Victoria“ übers Dessauer Pflaster rumpelt, ist Lutzmann Feuer und Flamme. Er kauft sich einen Benz, holt ihn im Schwäbischen ab und fährt nach Anhalt.
Mitte September des Jahres eröffnet er damit den „Motor-Fahr-Verkehr“ mit Strecken nach Wörlitz und Aken. „Das war“, so Lothar Bebber, „das erste Taxi-Unternehmen Deutschlands.“ Aber der Erfolg währt nur kurz. 1894 bekommt Dessau eine Straßenbahn. Lutzmann läuft die Kundschaft weg. Aber der Auto-Virus sitzt nun tief drin in ihm. Er will selbst Autos bauen.
Tüftler aus Dessau baut ersten Opel und ersten Omnibus der Welt
In seiner Schlosserwerkstatt werkelt er drauf los, ein begnadeter Handwerker, der irgendwann aber seine Grenzen als Konstrukteur erreichen wird.
Die Autos, die dort entstehen, heißen „Pfeil“. Die Nummer 1 ist am 15. Mai 1894 fertig - drei PS hat der Motor, Spitze 25 km/h. Die Nummer 6 wird ein Lkw, der erste und einzige, der in Anhalt gebaut wird.
Lutzmann produziert Fahrzeuge für Kohlegruben und stellt den wohl ersten Omnibus der Welt auf die Räder, einen Sechzehnsitzer. Der Tüftler erfindet die Spurstange, eine simple Berganfahrhilfe, ein seinerzeit modernes Zündsystem. Da ist die „Anhalter Motorenfabrik“ längst aus allen Nähten geplatzt. Friedrich Lutzmann zieht um in die Dessauer Wasserstadt 25, baut neu, größer.
An dem Ort erinnert nichts mehr an ihn. Das Grundstück der Ex-Motorenfabrik ist das letzte links vor dem Hochwasserdeich. Steht man auf dem Damm, sieht man ein zweigeschossiges Backstein- gebäude mit einem Schornstein, eine Ruine, die man in Lutzmanns Zeit verorten könnte. Autohaus-Mann Bebber weiß, dass es nicht so ist: „Man sieht dort nicht die Lutzmann-Fabrik. Die wurde schon vor Jahrzehnten abgerissen.“
Es ist ein Neubau, der zuletzt als Textilreinigungs GmbH diente, wie auf einem vergammelten Schild an der Giebelseite steht.
Opel-Erfinder aus Dessau: Autobauer mit brauner Gesinnung
In die Zeit um 1892 fällt auch ein umstrittenes Lebenskapitel des Autokonstrukteurs. Er ist Mitglied des „Deutschen Bundes für die Hebung des Mittelstandes“. Aus dem wird der nationalistische „Deutsche Reformverein“, der auch in Anhalt antisemitisches Gedankengut publiziert.
In einer Anzeige vom 7. Juli 1892 wirbt dieser Verein im „Anhaltischen Anzeiger“ für einen Vortrag im Dessauer „Hofjäger“. Der trägt den Titel „Deutsche Vaterlandsliebe und seine Gegner“. Fett und groß gedruckt steht in der Anzeige darunter: „Juden haben keinen Zutritt“.
Im Kleingedruckten taucht Lutzmann auf: „Eintrittskarten werden ausgegeben von den Herren: F. Lutzmann, Askanische Straße 125...“, fünf weitere Vorverkaufs-Herren folgen.
Inwieweit Lutzmann nationalistischem Gedankengut verbunden war, ist kaum nachweisbar. Im Raum steht die Anzeige mit dem judenfeindlichen Vermerk. Verbürgt ist nur, dass er 1894 den Verein verlässt.
Drei Jahre später gründet der Dessauer gemeinsam mit anderen Männern am 30. September 1897 im Berliner Hotel „Bristol“ den „Mitteleuropäische Motorwagen-Verein“.
Mit dabei sind Vertreter von Daimler, Benz, Skoda, Siemens. Und dann macht Lutzmann wieder ein Stück vergessene Geschichte. Nach der Gründungssitzung wird eine Autoausstellung veranstaltet, der Vorläufer der heutigen IAA in Frankfurt. Nur vier Aussteller zeigen Modelle, Lutzmann ist mit zwei Dessauer Motorwagen dabei.
Von Dessau nach Rüsselsheim: So kam der Konstrukteur zu Opel nach Hessen
Das ist auch das Jahr, in der Familie Opel merkt, dass ihr Geschäft mit Fahrrädern und Nähmaschinen nicht mehr so flutscht. Wilhelm und Fritz Opel besuchen die Berliner Autoausstellung und werden auf Lutzmann aufmerksam. Zwei Mal reisen sie zu seiner „Anhalter Motorenfabrik“.
Danach sind sie sich sicher: Die kaufen wir und Lutzmann samt seiner Patente gleich dazu. Womöglich würde sowas heute unter „feindliche Übernahme“ laufen.
Am 21. Januar 1899 wird der Vertrag unterzeichnet. Opel feiert das als Moment, in dem die Firma beginnt, Autos zu produzieren. Die kleine Dessauer Fabrik wird demontiert und in Rüsselsheim neu aufgebaut. Lutzmann wird für (umgerechnet) 55.000 Euro Jahressalär ihr Direktor. Ab Februar 1899 baut man in Hessen den „Motorwagen System Lutzmann“.
Bei „Opel Classic“ in Rüsselsheim stößt man unter den dutzenden ausgestellten Modellen auf etwas, das man unter „Ironie der Geschichte“ verbuchen könnte. „Der Nachfolger des Lutzmann im Jahr 1902 war eigentlich ein Franzose“, sagt Classic-Chef Uwe Mertin und lenkt die Aufmerksamkeit des Besuchers auf das Logo in der Front eines Autos. „Opel“ steht da auf einem Messingschild geprägt, aber es handelt sich um einen Opel, der in Lizenz gebaut wurde.
„Als die Produktion des Lutzmann-Wagens in Rüsselsheim im Jahr 1901 eingestellt wurde, hatte man mit dem neun PS starken Zweisitzer des französischen Autobauers Alexandre Darracq ein technisch erheblich besseres Produkt, das fortan als Opel-Darracq gebaut wurde.“ Den ersten von Opel eigenständig entwickelten Motorwagen gab es ab 1903.
Opel kündigte Zusammenarbeit mit Dessauer Erfinder Lutzmann auf
Und Lutzmann? Er und Opel haben bald eingesehen, dass seine Fähigkeiten als Konstrukteur nicht für die nun einsetzende Revolution im Automobilbau ausreichten. Opel beendet die Zusammenarbeit mit Lutzmann.
Misserfolge und Fehlschläge prägen nun das weitere Leben des Dessauers. Er kauft eine Mineralwasserfabrik in Thüringen, die Pleite geht, versucht in Südamerika Fuß zu fassen, handelt erfolglos mit Schreibmaschinen.
1922 kommt Lutzmann zurück nach Dessau, halbwegs mittellos. Hier zählt der Flugzeugbauer Hugo Junkers zu seinen Freunden.
Der macht ihn zum Archivleiter in seinem Unternehmen, aber nur ein Jahr lang, dann gerät Junkers Firma ins Trudeln und Lutzmann muss gehen. Er bittet die Stadt um eine Bleibe und wird mit seiner Frau Marie ins „Rentnerheim“ eingewiesen, ein heute frisch saniertes Eckhaus in der Dessauer Mendelssohn Straße 14.
„Lutzmann stirbt 1930 als armer Mann“, sagt Autohaus-Chef Lothar Bebber, der sich seit Jahrzehnten darum müht, die Erinnerung an den Autopionier wach zu halten. Der „Pfeil“ , den Bebber vor seinem Büro stehen hat, ist deshalb viel im Anhaltischen unterwegs, wird gezeigt, wann immer es einen Anlass gibt. Den findet Bebber immer wieder, organisiert Oldtimer-Ausfahrten, nutzt Volksfeste und regionale Messen.
Die ersten Autos von Opel-Konstrukteur Lutzmann aus Dessau kommen unter den Hammer
Gefragt, wie er zu dem Ur-Lutzmann gekommen sei, spult er gern diese Geschichte ab. Die englische Familie Koosen hatte 1894 einen „Pfeil 1“ gekauft und war so begeistert, dass sie in Dessau gleich noch einen zweiten bestellte und auf Deutschland-Tour gingen. Ob sie auch in Dessau waren, ist nicht belegbar.
Acht weitere Besitzer gibt nach den Koosens. 1982 dann kommt das Pfeil-Auto bei Sotheby’s unter den Hammer. Für über 200.000 Mark erhielt das Technikmuseum Berlin den Zuschlag.
Bebber hört nach dem Mauerfall davon. Warum soll das Auto in Berlin überwiegend im Fundus stehen, fragt er sich? Der umtriebige Geschäftsmann macht einen Deal mit den Museumsleuten - Dauerleihgabe.
Elektroauto in Eigenregie gefertigt
Vor 20 Jahren wird Lothar Bebber zum Tüftler Lutzmannscher Art. Lange bevor Opel das E-Auto Ampera (2016) auf die Beine stellte, elektrifizierte er in Handarbeit 20 Opel Corsa.
„Ganz einfach. Benzinmotor raus, Elektromotor rein, den Saft lieferte ein gewöhnlicher Bleiakku“, erklärt er. Für den Stadtverkehr, fürs Pendeln habe es gereicht. Gemeinsam mit einem bayrischen Partner verkauft er die E-Autos, 15 dort, fünf in Anhalt, erhalten sind sie nicht mehr. 2019 schließt sich ein Kreis: Der elektrischer Corsa steht bei Opel in den Startlöchern.
Ein Denkmal für Lutzmann gibt es bislang nirgendwo, auch nicht in Nienburg an der Saale, wo er 1859 geboren wurde. Seit Jahren müht sich dort Michael Bunge mit dem „Verein zur Förderung kultureller Projekte“, Geld dafür zusammen zu bekommen. Eine zähe Sache, ganz so wie Lothar Bebbers Sammelaktion für den Erhalt des Lutzman-Zauns an der Villa Krötenhof in Dessau.
Der Denkmal-Entwurf ist schon seit zehn Jahren fertig, aus Bronze, gut zwei Meter hoch. Gestaltet hat ihn der Quedlinburger Bildhauer Wolfgang Dreysse. Der hofft immer noch, dass sein Werk aufgestellt wird, „aber dann werde ich es wohl noch mal überarbeiten“.
Gerade seien die Preise für Bronze wieder gestiegen, klagt Bunge. Er und der Verein wollen, unterstützt von der örtlichen Sparkasse, ab März in einer Ausstellung im Geldinstitut den Bürgern Lutzmann näher bringen und ab Mai mit einer Art Litfaßsäule im Ort für Spenden werben. 36.800 Euro sind für das Denkmal nötig - in einer Gegend, wo es nicht gerade von Groß-Sponsoren wimmelt, wie Opel einer sein könnte. Hier mal 178,79 Euro Flaschenpfand vom Supermarkt, da mal 170,40 Euro Spende vom Weihnachtsmarkt. Bisher hat man 5.800 Lutzmann-Euro zusammen. Aber Michael Bunge ist zuversichtlich: „Wir habe einen langen Atem!“ (mz)
