1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Dessau-Roßlau
  6. >
  7. Nicht immer nur besinnlich: Nicht immer nur besinnlich: Weihnachtszeit bedeutet für viele Dessau-Roßlauer auch Stress

Nicht immer nur besinnlich Nicht immer nur besinnlich: Weihnachtszeit bedeutet für viele Dessau-Roßlauer auch Stress

Von Thomas Steinberg 25.12.2019, 11:00
Weihnachtsdeko in einem Einkaufszentrum (Symbolbild)
Weihnachtsdeko in einem Einkaufszentrum (Symbolbild) imago stock&people

Dessau-Roßlau - Die „Roten Rosen“ hielten 1998 Trost parat: „Hey, ein neues frohes Fest, keine Angst es wird vorübergehen. Hey, ein neues frohes Fest, nur Mut, wir werden es durchstehen“, sangen die „Die Roten Rosen“, üblicherweise bekannt als die Punkband „Die Toten Hosen“.

Haben Campino und seine Combo recht? Ist Weihnachten tatsächlich so stressig, dass danach vor allem Seufzer der Erleichterung ausgestoßen und Schwüre geleistet werden, es nächstes Jahr ganz anders zu machen: Nicht die ganzen Verwandten zu besuchen, zu denen man sonst keinen Kontakt hat, weniger zu essen, weniger Geschenke zu kaufen. Überhaupt: Weniger Lametta.

Die zunächst ernüchternde Erkenntnis, wenn man sich auf die Suche nach einer wissenschaftlich fundierten Antwort begibt: Obwohl Weihnachten von Abermillionen Menschen gefeiert wird, ist die Zahl der Studien über das wichtigste Fest in (einst) christlich geprägten Gesellschaften erstaunlich gering.

„Die Weihnachtszeit ist besonders anstrengend“

Anlässlich der nicht ganz ernst gemeinten Weihnachtskolloquien der Psychologischen Fakultät an der Uni Heidelberg wurden 2005 gerade einmal 131 einschlägige Studien identifiziert. Viele von diesen beschäftigten sich mit Einkaufs- und Geschenkverhalten, eine analysierte die wahrgenommenen Größe von Weihnachtsbäumen. Und vor allem skandinavische Forscherinnen und Forscher und solche aus Kanada schienen Weihnachten als lohnenden Forschungsgegenstand zu betrachten.

Also: Ist der Weihnachtsstress bloße Behauptung? Verspürt man ihn nur selbst in der einen oder anderen Form und schlussfolgert dann auf andere?

Keineswegs, sagt Nikolaus Särchen. Der Psychiater ist Chefarzt der Klinik Bosse in Wittenberg. „Die Weihnachtszeit ist besonders anstrengend“, ist er überzeugt „Und das hat zunächst nicht mit psychiatrischen Dingen zu tun.“ Es fängt schon in den Wochen vor dem Fest an. Spätestens wenn zum ersten Mal im Radio „Last Christmas“ gespielt wird, gilt das als Kommando: Los, los, ab jetzt wird’s besinnlich!

Weihnachten ist Stresszeit, ist sich der Göttinger Soziologe Michael Mutz sicher

Die Realität ist eine völlig andere, dass im Stadtrat von Dessau-Roßlau gefordert wird, zur Adventszeit die Parkgebühren im Zentrum zu streichen, ist eine hübsche Illustration für die auch von Särchen vertretene These der Kommerzialisierung des Festes.

Und wenn die Kirchen anregten, in die Weihnachtszeit müsse mehr Ruhe einkehren, ist das in Särchens Augen auch keine große Hilfe. „Dann wird in diese Tage wieder zusätzlich Bedeutung reingelegt, es wird unser Verhalten bewertet, und das macht uns zu schaffen.“

Weihnachten ist Stresszeit. Der Göttinger Soziologe Michael Mutz hat sich 2016 in einer großangelegten Metastudie („Christmas and Subjective Well-Being: a Research Note“) mit dieser These auseinandergesetzt. Dazu hat er soziologische Interviews aus elf europäischen Ländern ausgewertet, die nach dem momentanen persönlichen Wohlbefinden fragen.

Weihnachten fühlen sich die meisten eher schlechter als zu anderen Zeiten des Jahres

Das Ergebnis ist unterm Strich eindeutig: Weihnachten fühlen sich die meisten eher schlechter als zu anderen Zeiten des Jahres. Mutz vermutet, dass das Unwohlsein unter anderem vom vorweihnachtlichen Einkaufsirrsinn ausgelöst wird. „Der Ersatz der Religion durch den Materialismus kann jedoch auf Kosten des Glücks gehen.“

Die These könnte etwas haben. Denn auch dies zeigt die Studie: Je religiöser die Menschen sind, je mehr sie Weihnachten im ursprünglichen Sinne verstehen, desto zufriedener sind sie in diesen Tagen.

Eine oft gehörte Behauptung indes ist schlicht (und zum Glück) falsch, wie Särchen sagt und wie etliche Studien belegen: Keineswegs häufen sich Weihnachten die Suizide. Im Gegenteil. Die Selbstmordrate sinkt und steigt erst danach wieder leicht an. Über die Gründe will Särchen nicht spekulieren, spricht nur allgemein von einem „protektiven Effekt“, also einer schützenden Wirkung der Weihnachtsfeiertage. (mz)

Im Falle von schweren psychischen Problemen ist in Dessau-Roßlau das St. Joseph-Krankenhaus erreichbar. Andere Ansprechpartner vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Nummer 116117.

Nikolaus Särchen ist Psychiater und weiß, wie sich die Adventszeit und Weihnachten auf die Menschen auswirken.
Nikolaus Särchen ist Psychiater und weiß, wie sich die Adventszeit und Weihnachten auf die Menschen auswirken.
Thomas Klitzsch