Kabarett in der Marienkirche Kabarett in der Marienkirche: Schlichte Poesie der Nummer
Dessau/MZ. - Etwa zwei Stunden solle es dauern. Olaf Böhmes Prolog bemüht sich um tröstenden Zuspruch für das unbarmherzige Unterfangen. Ein wenig Resignation tänzelt im liebevoll geglätteten Dresdener Singsang: "Alles schaffs' de nie". Doch das Alphabet blättert voran, und in der Pause ist keiner gegangen, obwohl diese ausdrücklich als Möglichkeit zur Flucht benannt wurde.
Was ein promovierter Mathematiker so treibt, wenn er den Rechenstab an den Nagel gehangen hat, war am Freitag in der Dessauer Marienkirche in Erfahrung zu bringen. Auf die Mitarbeit in einer off-Theatergruppe folgten bei Böhme kabarettistische Soloabende. Jetzt hat er sich der auflagenstarken Literatur zugewendet. "Kein Anschluss unter dieser Nummer" orakelt der Titel einer Lesung aus dem wenig poetischen Telefonbuch. Die Verbindung zum Publikum ist allerdings vor dem ersten Eintauchen ins Datenmeer aufgebaut.
An den Mathematiker erinnert noch der unter P häufig verzeichnete Familienname "Pi" mit komplizierter Rufnummer. Sonst tauscht er stringente Folgen mit freien Assoziationen. Der Sachlichkeit der Einträge werden so allerlei nicht notierte Botschaften entlockt, die vor allem geistvoll Nonsens transportieren.
Alles beginnt natürlich mit A, und alles drängelt offenbar werbewirksam an den Anfang. Schlüsseldienste finden sich hier, die gleich mit mehrfachem A beginnen. Wozu so ein Dienst nötig ist, demonstriert Böhme mit pantomimischer Bravour als betrunkener Heimkehrer. Zwischen parodistischen Exkursen und skurrilen Anekdoten fließen immer wieder Zahlen und Namen. In die Reihe der Familiennamen "Aal" gesellt sich eine gewisse Marianne Dorsch. Er stutzt, liest weiter: "geborene Aal". Der Name Birne veranlasst ihn, "Das Gleichnis von der Birne" vorzutragen. Da wird herrlich Spannung erzeugt, um doch nur mit großer Geste pathetisch im Nonsens zu enden. Die Pointe kommt später unter Q. Hier braucht er nur noch anzudeuten, dass ihm dazu ein Gleichnis einfalle.
Natürlich gibt es vom einstigen Wissenschaftler auch ein Stück tiefschürfender Namenkunde. Bekanntlich trugen die ausgeübten Tätigkeiten viel zur Namensfindung bei. Zum Glück sei dieser Prozess abgeschlossen, sonst klänge vieles wahrlich sperrig. Ackermann sei das klassische Beispiel mit klarer Aussage. "Ackermappe" deute auf ländliche Verwaltungsarbeit und "Ackermitte" auf eine Hilfstätigkeit bei der Landvermessung. Bedeutungsschwanger bedient Böhme immer wieder die Lust am Nonsens. Unter P assoziiert er Werbung in eigener Sache. Weil in Dessau kein Piechmann verzeichnet ist, verweist er auf das Dresdener Telefonbuch. Besagter Herr rezitiert sonst seine Gedichte. Das besorgt er nun selbst und bringt sich über wahrlich zündende Schüttelreime und Knittelverse mit und ohne verlorene Pointe in deklamatorische Höchstform. Die Zuschauer bedanken sich lachend. Das Telefonbuch gerät zur kurzweiligen Lektüre. Lesen ist eben ein schöpferischer Akt. Trotzdem ist das Dessauer Telefonbuch nicht im Buchhandel erhältlich.