Junkers-Mitarbeiter Junkers-Mitarbeiter aus Dessau: Vor 70 Jahren von sowjetischen Besatzern der Heimat entrissen

Dessau - Das Leben schlug ganz unverhofft neue Wege ein, an jenem Oktobermorgen vor 70 Jahren. Früh, fünf Uhr: Sturmklingeln.
Ein russischer Offizier, ein Dolmetscher und bewaffnete Soldaten postierten sich vor der Tür. Hundertfach geschah das am 22. Oktober 1946 in Dessau. Junkers-Mitarbeiter und ihre Familien sollten ihre Habseligkeiten zusammenpacken und mitkommen in die neue Heimat im Osten, tief im Osten, 130 Kilometer nordöstlich von Moskau.
Podberesje, ein kleines Kaff in der sowjetischen Provinz, sollte für die Junkers-Mitarbeiter und ihre Angehörigen für die nächsten Jahre das neue Zuhause werden.
800 Junkers-Mitarbeiter gemeinsam verschleppt
An der Entwicklung der zivilen und militärischen Luftfahrt des großen Bruders der zukünftigen DDR sollten 800 Junkers-Mitarbeiter und 1.200 andere Spezialisten aus anderen Flugzeugwerken in der sowjetischen Besatzungszone mitwirken.
Daraus ist bei den Exil-Dessauern eine Schicksalsgemeinschaft fürs Leben geworden. Regelmäßig im Kleinen treffen sich die ehemaligen Junkers-Leute beziehungsweise ihre Kinder noch immer. Jetzt zum 70. Jahrestag gab es nach 1996 das zweite große Wiedersehen in Dessau.
Ein Mitarbeiter und 200 Kinder von einst, mittlerweile fast überall auf der Welt verstreut, tauschten sich am Wochenende über das Erlebte aus und wussten manche Geschichte zu erzählen.
So auch Dieter Scheller. Als Zehnjähriger erlebte er den 22. Oktober 1946. „Das Leben lief so weit in geordneten Bahnen“, erinnert er sich. Der Vater, im Konstrukteursbüro von Junkers beschäftigt, wurde die letzten Kriegsjahren in eine Außenstelle nach Prag versetzt.
Die Mutter, die acht Jahre ältere Schwester und er fanden Zuflucht auf dem Land. Im Mai 1945 war die Familie in Dessau wieder vereint. Eine Drei-Zimmer-Wohnung in der Parkstraße 5 wurde ihr neues Zuhause.
Zuvor haben sie im Hasenwinkel gewohnt. „Vater ging wieder zur Arbeit. In der Schule unterrichteten größtenteils die Lehrer von früher“, blickt Scheller zurück. In der Freizeit war das beschädigte Mausoleum ein großer Abenteuerspielplatz. Dann und wann gab es für ihn und seine Freunde am Sitz der sowjetischen Kommandatur auch ein paar extra Lebensmittel abzustauben. Es hätte so weiter gehen können.
Als Fremde in der sowjetischen Ferne
Doch die Besatzer hatten andere Pläne: Sachen packen, Hab und Gut zum Güterbahnhof transportieren. In den Zug Richtung Osten setzen. Der 22. Oktober 1946 verging wie im Flug. Danach verbrachten hunderte Junkers-Spezialisten und ihre Angehörigen die Tage auf der Schiene.
Die Verpflegung sei ausreichend gewesen, die Behandlung durch die Besatzer relativ fair, sagt Scheller. „Für uns Kinder war das ein Abenteuer.“ Deshalb bekam sein im Frühjahr erschienenes Buch über die dortige Zeit auch den Titel „Abenteuer Podberesje.
Die Eltern stellten sich dagegen immer wieder die Frage: „Für wie lange?“ Es sollten bei den meisten bis zu acht Jahre werden. Angekommen in der neuen Heimat auf Zeit, sollte es den Deutschen an so wenig wie möglich mangeln.
Fast ein normaler Alltag
Viele Einheimische mussten zuvor für die „Neuen“ ihre Wohnungen räumen. Von Willkommenskultur konnte dementsprechend keine Rede sein. „Öfter wurden wir als Deutsche Schweine bezeichnet. Zeitweilig bildeten sich auch Banden, die sich bekriegten“, erzählt Scheller von den ersten Jahren.
„Danach normalisierte sich aber das Verhältnis“, erinnert er sich. Die deutschen Kinder gingen in eine für sie eingerichtete Schule, wo sie zweisprachig unterrichtet wurden. Die Eltern arbeiteten tagsüber und organisierten nach Feierabend ein reges Vereinsleben.
„Man konnte sich dort einrichten“, resümiert der Konstrukteurssohn. Heimweh war für ihn und die anderen Kinder nie ein großes Thema. Bei den Eltern sah das zum Teil schon anders aus.
Der Vater baute die DDR-Flugzeugindustrie mit auf
1954, Scheller hatte gerade ein Jahr in Moskau Mathematik studiert, ging es für die Familie zurück in die DDR, nach Dresden. Dort wechselte er an der Technischen Universität zur Physik, promovierte und arbeitete dort bis zu seinem Ruhestand im Bereich der analytischen Chemie.
Der Vater baute die DDR-Flugzeugindustrie mit auf. Die Sowjetunion und später Russland, ließ Scheller nicht wieder los. Sechsmal war er dort. Nachrichten über Russland verfolgt er genau. Die Bildung, die er genoss, die lobt er. Mit den gesellschaftlichen Verhältnissen kann sich der Physiker dagegen nicht anfreunden.
Erst eine Diktatur, jetzt eine Autokratie. „Ich wünsche diesem Land eine echte Demokratie“, sagt der Dresdner über seine unfreiwillige Heimat auf Zeit. (mz)



