Internationaler Tag der Verschwundenen „In Gedanken immer noch bei uns“: Acht Personen aus dem Raum Dessau bleiben spurlos verschwunden

Dessau/MZ - Es vergeht kein Tag, an dem Kathleen Born nicht an ihre Mutter denkt. „In Gedanken ist sie immer noch bei uns. Manchmal träume ich von ihr“, sagt sie und ringt um Fassung. „Es ist für uns unbegreiflich, dass sie einfach so verschwunden ist. Spurlos. Die Ungewissheit, was mit ihr passiert ist, ist das schlimmste.“
Es ist der 24. Juni 2020, als sich zunächst ein ungutes Gefühl und später Panik bei Ehemann Hans-Joachim und Tochter Kathleen Born breitmachen. Ihre 73-jährige Mutter, Ina Born, kommt abends nicht zurück in ihre Wohnung in der Kantorstraße. Am Mittag war sie mit ihrem weinroten Fahrrad aufgebrochen. Die beiden melden die Seniorin bei der Polizei als vermisst. Die sucht mit hohem Aufwand, doch fand keine Spur.
Mutter kommt abends nicht nach Hause
„Man hat nichts gefunden. Nicht das Fahrrad, nicht ihre Tasche“, sagt Kathleen Born. Ob ihre Mutter Opfer eines Verbrechens wurde, sich das Leben nahm oder einen Unfall hatte, weiß sie bis heute nicht. Ina Born gilt seitdem als jüngster aber weitaus nicht als einziger Fall einer Langzeitvermissten im Raum Dessau-Roßlau.

Gedenktag soll an Vermisste erinnern
An Menschen wie Ina Born wird am heutigen 30. August alljährlich mit dem „Internationalen Tag der Verschwundenen“ erinnert. So wie sie werden derzeit sieben weitere Personen im Bereich der Polizeiinspektion vermisst - manche schon seit Jahrzehnten. So verschwand im Jahr 1991 ein damals 90-jähriger Mann aus Zerbst. Er wäre heute 120 Jahre alt. Für die Polizei ist das kein Grund, ihn aus der Vermisstenkartei zu streichen, wie Polizeisprecherin Doreen Wendland sagt. „Nur weil eine vermisste Person ein bestimmtes Alter erreicht, fällt er nicht aus der Statistik heraus.“
Stattdessen gibt es eine Frist, wie lange die Dokumente über Vermisstenfälle aufbewahrt werden müssen. In der Dessauer Behörde sind das mindestens 30 Jahre. Dabei holen sie die Ermittler regelmäßig hervor und prüfen, ob es neue Erkenntnisse gibt. Bei Kindern alle zwei Jahre, bei Jugendlichen alle fünf und bei Erwachsenen alle zehn Jahre.
Doch nicht immer führt das zum Erfolg. Ein 1993 vermisst gemeldeter, damals 26 Jahre alter Roßlauer bleibt bis heute verschwunden. Im gleichen Jahr verlor sich die Spur eines 30-Jährigen aus Köthen, 1996 wurde eine Frau aus Dessau vermisst gemeldet. Auch sie tauchte bis heute nie wieder auf.

Polizei kennt viele Gründe für ein unerwartetes Verschwinden
Doreen Wendland betont jedoch, dass das Verschwinden all dieser Menschen kein „Verschwinden gegen ihren Willen“ zum Grund haben muss. Auf dieses Phänomen sollte der Gedenktag ursprünglich aufmerksam machen. Amnesty International erinnert an diesem Tag vor allem an Menschenrechtler und Oppositionelle, die von Konkurrenten oder Regimen aus dem Weg geräumt wurden.
In Dessau-Roßlau dürften die Hintergründe für ein Verschwinden andere sein. Gründe dafür gebe es einige, weiß Wendland. „Bei Kindern kommen Probleme in der Schule oder mit dem Studium, Prüfungsangst, Missbrauch, Liebeskummer, aber auch Gewalt innerhalb der Familie, Mobbing und Drogen, Krankheit oder ein Verbrechenstatbestand in Betracht.“ Auch zuvor geäußerte Suizidgedanken lassen die Polizei schnell handeln und mit einer Suche beginnen.
Voraussetzungen, damit die Polizei eine Suche beginnt, sind bei Kindern niedriger
Damit die Polizei aktiv wird, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein. Erwachsene müssen ihren „gewohnten Lebenskreis“ verlassen haben und es muss Gefahr für Leib und Leben bestehen. Nur dann beginnt eine Suche. Wird der Vermisste gefunden und geht es ihm gut, informiert die Polizei nur auf seinen Wunsch die Angehörigen, denn jeder Erwachsene kann seinen Aufenthaltsort frei wählen.
Anders sieht das bei Kindern aus. „Bei ihnen wird grundsätzlich von einer Gefahr für Leib oder Leben ausgegangen. Sie gelten für die Polizei bereits als vermisst, wenn sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben und ihr Aufenthalt nicht bekannt ist“, erklärt Wendland. Entschließt sich die Polizei zu einer Suche, ist der Aufwand, der betrieben wird, oft immens. So auch im Fall von Ina Born.
Nachdem sie verschwand, wurde sie bundesweit zur Fahndung ausgeschrieben. In Dessau begann die Polizei einen Tag später mit der Suche. Beamte recherchierten in der Nachbarschaft und klapperten mögliche Anlaufpunkte ab. Sie fragten in Krankenhäusern und suchten mit Hubschraubern und Spürhunden.
Ermittlungen im Fall Ina Born sind erschöpft
Auch in den Tagen danach ging die Suche weiter. Zwischenzeitlich konzentrierten sich die Ermittler auf den Bereich Leiner Berg, nachdem ein Zeuge dort eine der Vermissten ähnlich aussehende Person gesehen haben will. Einsätze der Wasserschutzpolizei, von Spürhunden, der DLRG und Bereitschaftspolizei blieben erfolglos. Fünf Hubschraubereinsätze brachten keine Spur. Auch für Doreen Wendland ist das eine bittere Erkenntnis. „Der Fall befindet sich nach wie vor in der Polizeiinspektion. Die Ermittlungen sind gegenwärtig erschöpft. Sollten sich neue Hinweise zum Fall ergeben, werden die Ermittlungen umgehend fortgeführt“, sagt sie.
Kathleen Born erkennt mehr als ein Jahr nach dem Verschwinden ihrer Mutter an, dass die Polizei damals viel getan hat, um sie zu finden. Auch wenn ihr die Suchmaßnahmen unmittelbar nach der Vermisstenmeldung als zu zögerlich erschienen. Mit ihrem Vater versucht sie, den Verlust zu verarbeiten. Denn dass ihre Mutter noch zurückkehrt, glaubt sie nicht. „Ich gehe davon aus, dass sie nicht mehr lebt“, sagt sie. Aber ohne Gewissheit, ohne eine Beerdigung, kann sie nicht abschließen.