Heimatgeschichte Heimatgeschichte: Kanzler lernte in Zerbst
Zerbst/MZ. - Im Jahre 2003 begeht das Gymnasium Francisceum in Zerbst sein 200-jähriges Jubiläum. Die Schule kann darauf verweisen, vielen Tausenden Schülern das Rüstzeug für das spätere Leben mitgegeben zu haben. Seit Schulgründung im Jahre 1803 bis zum Jahr 2003 hat das Francisceum laut vollständig erhaltenem Verzeichnis 11 248 Schüler und Schülerinnen entlassen.
Wer die Schülerlisten des Francisceums durchsieht, wird sehr schnell erkennen, dass das Francisceum keinesfalls eine Standesschule war. Viele Kinder des mittleren Bürgertums, aus Kaufmanns- und Handwerkerkreisen, aber auch zahlreiche Arbeiterkinder haben von Gründung der Schule an hier gelernt. Fürst Franz hatte mit der Schaffung des Alumnats (Schülerwohnheims) und der Einrichtung eines kostenfreien Mittagstisches für sozial schwächere Schüler hierfür die Bedingungen geschaffen. Viele dieser Schüler haben es später zu angesehenen Stellungen und Berufen gebracht.
Dem widerspricht nicht, dass das Francisceum - besonders in den Jahren 1850 bis 1891 - auch von vielen Kindern adliger Familien besucht wurde. Dies hing einerseits mit dem blühenden Alumnat zusammen, das bis 1891 bestand, lag wohl aber andererseits vor allem daran, dass sich das Francisceum unter der Leitung der begnadeten Pädagogen Ritter, Sintenis und Stier zur führenden Lehranstalt Anhalts entwickelte, so dass der vielzitierte Satz "Wer etwas werden sollte in Anhalt, den schickten die Eltern nach Zerbst aufs Francisceum, und wer etwas geworden war, der kam oftmals daher" schon seine Berechtigung hatte.
In den Schülerlisten des Francisceums finden sich denn auch neben den anhaltischen adligen Familien wie die von Basedow, von Bodenhausen, von Davier, von Fuchs, von Lattorff, von Wulffen und von Wuthenau auch solche bekannten von außerhalb wie die von Alvensleben, von Amelunsen, von Arnim, von Blücher, von Bülow, von Götz, von Griesheim, von Hardenberg, von Häseler, von Hellfeld, von Huth, von Jena, von Katte, von Korff, von Larisch, von Ledebur, von Lützow, von Monteton, von Nyrenheim, von Plötz, von Rechenberg, von Salmuth, von Schuchmann, von Siegsfeld, von Werder und von Winterfeldt.
Verwundert ist man, dass über einen der berühmtesten adligen Schüler des Francisceums, über den am 7. April 1882 in Brandenburg geborenen Kurt von Schleicher in den zahlreichen Publikationen zum Francisceum nichts zu lesen ist. Der letzte Reichskanzler der Weimarer Republik, General Kurt von Schleicher, der nach der Machtergreifung durch den Faschismus versucht hatte, die Nazipartei zu spalten und sich den Gewerkschaften zu nähern, war tatsächlich zeitweise Schüler des Francisceums. Als man seinen Vater, den Hauptmann Hermann von Schleicher, von Brandenburg nach Zerbst versetzte, wurde er im Jahre 1891 in das Francisceum aufgenommen. Zu seinen Mitschülern zählten u.a. die aus bekannten Zerbster Familien stammenden Wilhelm Götschke, Walter Pfannenberg, Artur Elster, Karl Fischer und Emil Petzold.
Dass man über den wohl prominentesten Schüler des Francisceums nie etwas zu lesen bekam, hat natürlich seine Ursachen. Während des Beginns der Nazidiktatur von der Geheimen Staatspolizei nachweislich überwacht, ließ Hitler in Zusammenhang mit dem "Röhm-Putsch" im Juni 1934 die Widersacher seines Regimes, zu denen auch General Kurt von Schleicher gehörte, ohne Gerichtsverfahren am 30. Juni 1934 ermorden. Und zu DDR-Zeiten galt der letzte Reichskanzler der Weimarer Republik als reaktionärer Vertreter des Finanzkapitals und als politischer Exponent der Reichswehrführung. So schien es opportun und bequem zu sein, den Namen von Schleicher in allen Publikationen totzuschweigen.