Heimlich im Rausch? Greifen die Dessau-Roßlauer wegen der Pandemie öfter zum Alkohol?
Vieles bleibt hinter den Wohnungstüren verborgen. Experten gehen von einem erhöhten Missbrauch aus.

Dessau-Roßlau - Die alte Dame ist der Supermarktkassiererin gut bekannt. Alle zwei Tage kommt sie und legt eine Flasche Klaren auf das Band. Für den Hausmeister sei die gedacht, für den Enkel, der mal wieder zu Besuch komme oder den Nachbarn, den sie um einen Gefallen gebeten habe. Die Erklärungen gibt die alte Dame ungefragt. Ganz so, als würde sie sich rechtfertigen. Vor sich selbst und den anderen gegenüber.
Es ist eine Alltagsszene, wie sie so in diesen Wochen oft zu beobachten ist. Einsamkeit und Langeweile treibt die Senioren oftmals in den Alkohol. Unbeobachtet und unkontrolliert passiert das in den eigenen vier Wänden. „Das könnte eine neue Zielgruppe in den Suchtberatungsstellen werden“, befürchtet Peter Spitza, Standortleiter der Diakonie-Suchthilfe Bethanien in Dessau.
Sechs, sieben Flaschen Wein zu zweit an einem Wochenende?
Bei Andreas und Sabine Wohler (Name geändert) klingelt alle vier Wochen der Paketzusteller. Der Weinhändler hat Nachschub geschickt. Sechs, sieben Flaschen des Rebensaftes „schaffen“ die beiden an einem Wochenende ohne Anstrengung. Man könne doch nicht weggehen oder irgendwo feiern. Um das zu kompensieren, trinken sie eben zu Hause. Und weil es so einfach ist und man ja auch gefrustet sei, trinke man jeden Tag ein, zwei, drei Gläschen.

„Das sind Missbräuchler“, macht Cornelia Schurade, Suchttherapeutin in der Beratungsstelle im Therapiezentrum Bethanien in der Kurt-Weill-Straße, deutlich. Das treffe auch auf die Klienten zu, die bei ihr die MPU-Vorbereitung absolvieren. Deren Zahl sei nicht wesentlich gestiegen. Erwischt würden sie zumeist mit 1,6 bis 1,7 Promille.
Einen verstärkten Zulauf verzeichnet die Suchtberatungsstelle seit Pandemiebeginn nicht
Die wichtige Frage sei, ob sie noch in der Lage sind, die Trinkmenge zurückzuschrauben, also kontrolliert zu trinken. „Können sie das nicht mehr, besteht bereits eine Abhängigkeit.“ Erst wenn das als ernstes Problem erkannt worden sei, kämen sie als Beratungsstelle ins Spiel. „Dabei sind wir nicht nur Ansprechpartner bei Abhängigkeit, sondern auch bei bestehendem Missbrauch“, macht Schurade deutlich. „Wir helfen, das eigene Trinkverhalten zu analysieren, klären auf und unterstützen“, verdeutlicht Schurade.
Einen verstärkten Zulauf verzeichnet die Suchtberatungsstelle seit Pandemiebeginn nicht. „Der Bedarf war auch vorher schon groß und ist groß geblieben.“ Schurade macht auch deutlich, dass eine Abhängigkeit nicht in wenigen Wochen entsteht, sondern Jahre vorher beginnt. Wenn allerdings die Menschen, die jetzt deutlich mehr Alkohol trinken dies beibehalten, sei eine Abhängigkeit als Langzeitfolge zu befürchten. „Wir wissen ja nicht, was hinter den Türen stattfindet.“
Das sagt auch Susen Thielemann, Koordinatorin für Prävention und Jugendschutz bei der Stadt Dessau-Roßlau, bei der Frage nach den Kindern und Jugendlichen. Konkrete Aussagen über deren Drogen- und Alkoholkonsum in der Pandemie kann sie nicht treffen. „Schulen und Freizeiteinrichtungen sind kaum offen, wir sehen sie also nicht.“
SAGA Getränke-Fachgroßhandel GmbH verzeichnet in ihren Märkten einen steigenden Absatz sowohl bei alkoholischen als auch bei alkoholfreien Getränke
Was Thielemann aber mit Sicherheit sagen kann, ist die Tatsache, dass sich die Kinder und Jugendlichen immer mehr zurückziehen und digital unterwegs sind. „Hier steigt die Gefährdung enorm, seien es die drohende Abhängigkeit, sexuell unseriöse Angebote oder Fake-News.“ Thielemann ist überzeugt, dass die Folgen erst deutlich werden, wenn sich das Leben wieder normalisiert. Ob Jugendliche mehr zur Flasche greifen, könne sie ebenfalls nicht sagen. „Das findet wenn, dann im privaten Umfeld statt, wo wir keinen Einblick haben.“ Sie geht davon aus, dass Jugendhilfe und Sozialarbeit nach der Pandemie neu zu denken sind.
Die SAGA Getränke-Fachgroßhandel GmbH verzeichnet in ihren Märkten einen steigenden Absatz sowohl bei alkoholischen als auch bei alkoholfreien Getränken. „Es wird mehr gekauft, weil die Gastronomie fehlt“, sagt Geschäftsführer Tobias Gröger. Dass der Alkoholverkauf gewachsen sei, könne er nicht bestätigen. (mz)