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Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer in Dessau Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer: Ostalgie statt Streitgespräch

Von Thomas Steinberg 14.04.2016, 12:56
Friedrich Schorlemmer und Gregor Gysi (v.li.) unterhalten sich in der Marienkirche über ihr Buch „Was bleiben wird“.
Friedrich Schorlemmer und Gregor Gysi (v.li.) unterhalten sich in der Marienkirche über ihr Buch „Was bleiben wird“. Lutz Sebastian

Dessau - Es gibt noch Dinge, für die Gregor Gysi kämpfen will. Für gleiche Bildungschancen etwa. Oder für preiswerte Kultur: Auch für das dritte Kind einer Hartz-IV-Besucherin müsse der Besuch eines Konzerts mit Beethovens Neunter bezahlbar bleiben. In der fast ausverkauften Marienkirche applaudiert das Publikum. Man darf vermuten, das dritte Kind einer Hartz-IV-Besucherin war nicht darunter bei einem Eintrittspreis von mindestens 16,50 Euro.

Für dieses Geld bekam man immerhin nicht allein Gysi geboten, sondern überdies den einstigen Pfarrer Friedrich Schorlemmer und damit jemanden, dem nicht einmal ansatzweise Nähe zum DDR-System unterstellt werden könnte.

Zwei Männer und die Ostalgie

Zwei redegewandte Männer, beide um das Kriegsende herum geboren, und doch mit denkbar unterschiedlichen Biografien diskutieren – das könnte eine spannende Kontroverse geben, hatten sich der Aufbauverlag und der Journalist Hans-Dieter Schütt gedacht und baten die beiden zum Gespräch. Das Ergebnis liegt nun als Buch vor, für das Schorlemmer und Gysi mit gemeinsamen Auftritten werben: „Was bleiben wird“ lautet der Titel.

Ein Streitgespräch ist nicht zustande gekommen, wie selbst der Verlag einräumt. Falls die Veranstaltung in der Marienkirche für den Ton des Buches stehen sollte, bietet das vor allem eines: Die nur durch leichte Ironie gebrochene Selbstdarstellung von zwei Männern. Nette Anekdötchen. Hohen Unterhaltungswert, geringen Erkenntnisgewinn. Das umso mehr, als bei aller deutlicher Kritik am Osten sowohl Gysi als auch Schorlemmer eine verbrämte Ostalgie pflegen.

Lupenreine Ossis

Die zeigt sich etwa dann, wenn Schorlemmer den einstigen ostdeutschen Staats- und Parteichef Ulbricht nachahmt und ins Publikum fragt: „Sie erinnern sich?“ Oder wenn man auf dem Podium scheinbar beiläufig erwähnt, ein schwer erträglicher Mann wie Thüringens AfD-Chef Björn Höcke komme ja aus dem Westen. Da wird das eigene Ossi-Licht zu sehr unter den Scheffel gestellt. Mit Lutz Bachmann, den Pegida Anführer, oder dem NSU (um nur einige zu nennen) hätte man schließlich lupenreine Ossis zu bieten.

Gregor Gysi Sohn des Widerstandskämpfers und späteren Kulturministers der DDR Klaus Gysi, gehörte zu den eher systemnahen Persönlichkeiten der DDR. 1967 trat er in die SED ein, vertrat als Rechtsanwalt unter anderen Robert Havemann und Rudolf Bahro. 1989 bis 1993 war er Vorsitzender der SED-PDS, von 2005 bis 2015 Fraktionsvorsitzender der Linken.

 

Friedrich Schorlemmer war Sohn eines Pfarrers und wurde selbst Pfarrer. Als Oppositioneller und Mitinitiator der Bürgerbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ stand er der DDR und ihren Oberen kritisch gegenüber. Mittlerweile ist Friedrich Schorlemmer Mitglied der SPD und noch immer ein Mann, der nicht davor zurückschreckt, sich einzumischen.

Doch die anderthalb Stunden in der Marienkirche sollten nicht der Beunruhigung oder der intellektuellen Herausforderung des Publikums dienen, sondern das Gefühl vermitteln, irgendwie auf der richtigen Seite zu stehen. Gysi mosert zum Beispiel über den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik und den fehlenden Neubeginn und vergisst zu erwähnen: Es war dieser Weg, den die übergroße Mehrheit der Ostdeutschen gewollt und gewählt hatte. Wie hatten viele von denen vor der Leipziger Oper gerufen? „Helmut, Helmut.“

Fehlende Differenzierung

Gelegentlich rutscht das Gespräch ins Populistische ab, wenn etwa Friedrich Schorlemmer mit abschätziger Betonung spricht, man habe „nicht mehr die eine Partei, aber die Parteien reichen mir auch schon“.

Da es schon an der Differenzierung fehlte, waren Denkanstöße für die Gegenwart erst gar nicht zu erwarten. Ein halber Satz zu Flüchtlingen, kein Wort zur Globalisierung, zu Europa, zur AfD, zu brennenden Flüchtlingsheimen, zu Erdogan, zum Internet – das Gespräch hätte mit nahezu identischem Inhalt vor 20 Jahren stattfinden können. Vorteil: der Eintritt hätte vermutlich nur 16,50 Mark gekostet. (mz)