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Erinnerungen an Dessauer Knast Erinnerungen an Dessauer Knast: «Das Grab meiner Jugend»

Von Oliver Schröter 12.02.2004, 16:33

Dessau/MZ. - Maud Rescheleit und Stefan Krippendorf haben dieses Thema erstmals beleuchtet. Initiiert durch die Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, Edda Ahrberg. Die beiden jungen Erziehungswissenschaftler haben zahllose Interviews geführt. Mit ehemaligen Insassen und Mitarbeitern, haben Archive durchforstet und Fotos ausgewertet. Die Ergebnisse dieser Arbeit, zusammengefasst in einer über 200 Seiten starken Broschüre mit dem Titel "Der Weg ins Leben", stellten sie im Gemeindezentrum St. Georg vor.

Einige der nur 25 Forumsteilnehmer brachten eigene Erinnerungen mit, Emotionen aber investierten alle in die anschließende Diskussion. Da war Helmut Hannig, erster Anstaltsleiter in Dessau, sichtlich schockiert über die Entwicklungen nach seiner Zeit im Jugendhaus. Rolf Wiese war aus Leipzig nach Dessau gekommen, noch heute, nach fünfzig Jahren, bestürzt über die Verurteilung, die ihn 1954 ins Dessauer Gefängnis brachte. Er hatte als 18-Jähriger Flugblätter verteilt, in einer Zeit in der Meinungsfreiheit noch im Grundgesetz der DDR verankert war. Zehn Jahre Zuchthaus hieß die drakonische Strafe dafür.

Konzipiert wurde das Jugendhaus zu Beginn der 50er Jahre für die "Erziehung straffällig gewordener Jugendlicher zu wertvollen Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft". Insassen waren Räuber, Vergewaltiger aber auch kleine Diebe und politische Straftäter. Dessau war ein Modellprojekt, denn hier waren die 14- bis 18-Jährigen untergebracht, die wegen besonders schwerer Vergehen nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt wurden.

Was das hieß, schilderte einer der ehemaligen Insassen im parallel zur Broschüre von Rescheleit und Krippendorf entstandenen Dokumentarfilm. Rainer Broäter, zwischen 1969 und 1972 in Dessau inhaftiert, fasste diese Zeit mit ähnlichen Worten zusammen, wie die meisten damaligen Häftlinge. "Dessau war das Grab meiner Jugend." Broäter, schon seit frühester Kindheit immer wieder mit den Gewaltausbrüchen seiner wechselnden Stiefväter konfrontiert, verbrachte viele Jahre in Kinderheimen. Von dort unternahm der "Schwererziehbare" mehrere Fluchtversuche. Das brachte ihn schließlich nach Dessau.

Was dort geschah, hieß unter anderem "Selbsterziehung". Wurden alle Insassen einer Zelle wegen des Fehlers eines Einzelnen bestraft, musste der mit der blutigen Rache der Mithäftlinge rechnen. Ein wirkungsvolles System, das bewusst gefördert wurde. Wer trotzdem aus der Reihe tanzte, kam unter Arrest. Dort gab es nur wenig Essen, der Arrestierte musste die meiste Zeit des Tages stehen. Viele versuchten diesem grausamen Alltag auf Zeit zu entgehen, sie verschluckten Löffel und kamen ins Krankenhaus. "Löffelschlucker", das ist eines der geflügelten Worte aus dem Haus.

"Wer sagt, es wurde nicht geschlagen, der lügt", sagte Uwe Gruber, seit 1983 Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt, im einleitenden Film. Drill, Schikane und Demütigung, standen in Dessau auf der Tagesordnung. Die Jugendlichen stießen an körperliche Grenzen, arbeiteten täglich über zwölf Stunden. Immer wieder gab es Selbstmordversuche. Wer das Jugendhaus verließ war gebrochen. Broäter versuchte jahrelang mit psychotherapeutischer Hilfe, Erlebtes zu verarbeiten. Heute ist er verheiratet und Vater von drei Kindern. Über seine Zeit in Dessau schreibt er Gedichte und Bücher.