Dessau-Roßlau Dessau-Roßlau: Zeitreise mit der Groschenbande
dessau/MZ. - "Das Theater ist der seligste Schlupfwinkel für diejenigen, die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben, um bis an ihr Lebensende weiterzuspielen." Max Reinhardts Zitat stand der Premiere von "Oskar und die Groschenbande" voran. Erzähler Patrick Rupar stimmte damit am Samstagabend auf vergnügliche 100 Theater-Minuten ein, denn: Wo wären Kinder mit ihrer Fantasie und Kreativität besser aufgehoben, als auf einer Bühne? Die des Anhaltischen Theaters sollte sich dann auch mit zahlreichen jungen Akteuren füllen. Beinahe 60 mitwirkende junge Menschen aus Kinderchor und -ballett des Theaters sowie Musikschüler im Orchestergraben nahmen das Publikum im ausverkauften Haus mit auf eine Reise in das Berlin der späten 1920er Jahre.
Im Rahmen des 20. Kurt Weill Festes erlebte die Kinderoper des Komponisten Christoph Reuter und des Autors August Buchner nach Voraufführungen und Umarbeitungen seine Uraufführung. Erzählt wird die Geschichte des Dessauer Jungen Oskar Hobusch (stimmlich und körperlich cool: Conrad Felix Papesch), der sich - "Es ist der Vorteil dieser Stadt, dass sie einen Bahnhof hat" - als Nachzügler allein auf Klassenfahrt nach Berlin begibt. Von seinem schauspielernden Vater (Frank Roder) bekommt er als Reiselektüre ein Jugendbuch geschenkt. Vielleicht der Kästner-Klassiker, dessen Motive behutsam in die Oper mit eingeflossen sind? Aber sicherlich kein Groschenroman, denn das Buch begleitet ihn zwar nach Berlin, versetzt ihn allerdings auch ins Jahr 1928. Eine Zeit also, in der es den Groschen noch gibt, in der die neue Brecht-Weill-Premiere "Die Dreigroschenoper" im Theater am Schiffbauerdamm in aller Munde ist.
Unbeschriebene Blätter
Wird nun die Brechtsche Bande um die Familie Peachum einfach verjüngt oder schwingt doch ein wenig Dickens Oliver Twist mit? Jedenfalls landet Oskar in einer Clique von Kinderdieben, die dem Kriminellen Pit Schumm für schmutzige Deals zu Diensten stehen müssen. Da nützt selbst das Handy ohne Netz nichts mehr - und wen auch anrufen, wenn Telefonnummern noch nicht vergeben sind? Zudem ist die Geschichte in Oskars Buch, der er nun selber angehört, gelöscht. Gemeinsam sind die Kinder also (vorerst) unbeschriebene Blätter und bleiben auf sich allein gestellt. Denn auf illegale Geschäfte haben sie keine Lust mehr, und auch Oskar würde gern in seine Zeit zurück. Vorher jedoch muss die Geschichte zu Ende geführt, buchstäblich erlebt werden.
Dabei können die Zuschauer beobachten, wie man einen guten Plan ausheckt, und auch so ein allgegenwärtiges Politikum wie die Frage, ob man Böses mit Bösem bekämpfen dürfe, wird erörtert.
Verweise auf künstlerische Vorlagen müssen Komponist und Autor sichtlich Freude bereitet haben. Text und Musik von "Oskar und die Groschenbande" stecken voller Anspielungen - so klingen in Reuters Pop-Kompositionen Jazz- und Swing-Zitate der amerikanischen "Golden Twenties" unverkennbar an, und Buchners Text erschöpft sich nicht in unzähligen Wortspielen. Brechts Kommissar Brown wird eingedeutscht - und in der Kinderbande fehlen Bertolt und Kurt natürlich nicht. Die Synthese dieser Sphären par excellence ist sicherlich die Ballade von der Kuhdamm-Polly (herrlich frech: Hannah Fricke), eine Variation zu Weills "Seeräuberjenny".
Ergänzt wurde das Spektakel von den dynamisch eingesetzten Videoprojektionen (Barbara Janotte): Ob die am Zugfenster vorbeiziehende Landschaft, die Berliner Zeitung oder ein Blick durchs Fernrohr als Fenster nach Dessau - die Leinwand eröffnete für die Zuschauer behutsam den Raum hinter den Figuren, ohne sich aufzudrängen.
Weiterer Termin wird gesucht
Die Stärke dieser liebevollen Inszenierung von Silke Wallstein ist, dass sie verschiedene künstlerische Elemente und Akteure kongenial zusammenbringt. Hervorragend eingestimmte Kinder stehen gemeinsam mit vier "Großen" auf der Bühne (Kristina Baran, Patrick Rupar, Frank Roder, Sebastian Müller-Stahl), der Kinderchor singt ausgezeichnet (Einstudierung: Dorislava Kuntscheva), auch die Ballettfische (Choreografie: Gabriella Gilardi) dürfen nicht fehlen. Im Graben bilden Musikschüler mit Musikern der Philharmonie unter der Leitung von Stefan Neubert die klangliche Basis - ein Projekt also mit Vorbildcharakter, das Schule machen sollte.
Schneller als gedacht ist dann die Geschichte vom Jungen aus der Zukunft, der kam, um die Vergangenheit zu verändern (oder: neuzuschreiben?), zu Ende. Das Publikum tost - und vom Generalintendant vernehmen die Zuschauer bei der Premierenfeier mit Freude, dass ein weiterer Aufführungstermin gesucht wird.