Dessau-Roßlau Dessau-Roßlau: Überlebenskünstler
vockerode/Dessau/MZ. - Es gibt gemütlichere Plätze als Bellingshausen. Sommers steigen dort die Durchschnitts-Temperaturen nur knapp über den Gefrierpunkt. Im Winter, der hier in die Monate Juni, Juli, August fällt, zeigt das Thermometer meist um minus sieben Grad an, wenn es nicht eben richtig heftig kommt: Minus 25, minus 30 Grad sind bei hoher Luftfeuchtigkeit reichlich unangenehm.
Anderthalb Jahre hat Michael Gruner in Bellingshausen gelebt, in einer winzigen Siedlung, bestehend aus einigen Containerhäusern. Die russische Polar-Forschungsstation liegt auf dem zu den Südlichen Shetland Inseln gehörenden King George Island; bis zur Küste des Antarktischen Kontinents sind es rund 150 Kilometer.
Ein Glücksfall
Für Michael Andrejev muss das Zusammentreffen mit Gruner Mitte der 80er Jahre und am Ende der Welt ein Glücksfall gewesen sein. Der russische Biologe und der deutsche Hochseefischer verstanden sich schnell. Gruner, bereits ein halbes Jahr vor Andrejev in Bellingshausen eingetroffen, kannte die Gegend. Andrejev revanchierte sich auf seine Art und ließ Gruner teilhaben am Wissen über seinen Forschungsgegenstand.
Gruners Schätze liegen in schlichten grauen Kartons. Jahrelang hütete er sie zu Hause in Vockerode. Jedes Objekt hatte er sorgfältig beschriftet und mal einzeln, mal mit anderen zusammen, in durchsichtigen Plastikdosen aufbewahrt. Die Steine sind nicht groß, nur wenige erreichen das Format einer Kinderfaust. Aber auf die Steine kommt es eigentlich nicht an.
Viele Formen
Timm Karisch, Biologe am Dessauer Naturkundemuseum, begutachtet die Schenkung. Vor sich hat er nun rund 200 Organismen, von denen nicht ganz klar ist, ob sie schon tot sind oder sich noch zum Leben erwecken lassen. "Könnte sein, dass manche noch schlafen." Jedenfalls erweisen sich viele Flechten als wahre Überlebenskünstler, die im Stand-by-Modus Jahre überdauern können.
Ein Gras und eine Nelke sind die einzigen Pflanzen, die sich in der Südpolarregion halten können. Die Flechten dagegen kommen dort in vielen erdenklichen Formen vor. Streng genommen handelt es sich bei Flechten weder um Pflanzen noch um einen einzigen Organismus, sondern um eine sehr enge Symbiose von Pilzen und Algen, wobei der Pilz das Kommando führt. Er reguliert das Wachstum, verleiht der Flechte Form, holt sich Nährstoffe aus der Alge. Als Gegenleistung bietet er der Alge einen verstärkten UV-Schutz und verzögert das Austrocknen. Verhindern kann er es nicht, was den Flechten nur nützt: Bei Wassermangel fahren sie ihren Stoffwechsel herunter. Damit verlangsamen sich die Alterungsprozesse - Flechten können ohne weiteres mehrere hundert Jahre alt werden.
Die Potsdamer Antarktisforscher konnten in den 80er Jahren die Station Bellingshausen nutzen und suchten nach einem Techniker, der tauchen konnte. Gruner, zudem hochsee-erfahren, wurde ihr Mann. 1984 brach er auf.
Es gibt wenig Abwechslung im südpolaren Alltag. "Wenn du nicht jeden Tag viel arbeitest, fällt dir die Decke auf den Kopf", beschreibt Gruner sein Rezept gegen die Langeweile, das auch hilft, den Polarwinter zu überstehen. Nebenher wurde Michael Gruner zum Flechtenkenner.
Rund 25 000 Arten dieser Pilz-Algen-Wohngemeinschaften soll es geben. Zu finden sind sie überall: in Wüsten, in deutschen Mittelgebirgen, selbst noch 400 Kilometer vom Südpol entfernt. Sie wachsen auf Felsen, Dachziegeln, Tannennadeln. Und sie nehmen die unterschiedlichsten Formen an, wie Gruners Sammlung zeigt: Manche breiten sich wie Schorf über dem Untergrund aus, andere ähneln Gras oder Bartbüscheln oder winzigen Korallen. Selbst im trockenen Zustand haben einige Exemplare kaum etwas von ihrer Farbigkeit eingebüßt.
Vorzeigbare Erweiterung
Gruners Schenkung erweitert den Bestand des Museums auf einem Gebiet, in dem es, was für viele Museen gilt, bislang eher schlecht bestückt war. Ein Pilzsammler zu Anfang des vorigen Jahrhunderts kümmerte sich zwar um Flechten, bewahrte die aber in Briefumschlägen auf. Karisch: "Die kann man Besuchern nicht zeigen."
Dafür umso besser Gruners bewachsene Steine. Schon einmal waren einzelne von diesen im Museum zu sehen, bei einer Sonderausstellung zur Antarktis. Bevor sie nun wieder der Öffentlichkeit präsentiert werden, müssen die Stücke aber erst einmal katalogisiert werden. Und vor allem in die Tiefkühltruhe, um Schadinsekten, die sich zwischen den Flechten eingenistet haben könnten, den Garaus zu machen. Die Flechten selbst wird das nicht groß stören - die vertragen, wie Experimente gezeigt haben, sogar Weltraumtemperaturen.