Geheimer Plan der DDR DDR-Plan: In Dessau sollte ein Kernkraftwerk gebaut werden

Dessau - Das Vorhaben war geheim, nur hinter verschlossenen Türen wurde über den großen Plan gesprochen, der die DDR retten sollte: Der Bau eines Kernkraftwerks bei Dessau galt vor gut 40 Jahren als letzter Ausweg, die Energieversorgungsprobleme der DDR zu beheben.
Energiebilanz der DDR: SED erwartete steigenden Bedarf und geringere Stromproduktion
Ein Mammutunternehmen, das seinen Ausgangspunkt in einer Politbüroberatung im März 1973 hatte. Auf der Tagesordnung stand damals die Energiebilanz der DDR bis 1990 - und Experten wie ein Dr. Teuchert, Chef der Prognoseabteilung der Braunkohlebetriebe, hatten dem Politbüro einen Schrecken eingejagt.
Immer weniger immer schlechtere Kohle liege immer tiefer, in Revieren wie dem Geiseltal sinke die Förderung bei steigendem Bedarf. „Nach 1984“, so Teuchert, „wird das Defizit pro Jahr bei elf Millionen Tonnen liegen.“
Rheinsberg nördlich von Berlin war nur der Test: Nach Plänen aus den 50er Jahren sollte der Bau des 1966 in Betrieb genommenen Kernkraftwerks Rheinsberg der Auftakt zum geplanten Aufstieg der DDR zur Atommacht sein.
Bis 1970, so glaubten Partei- und Staatsführung damals noch, könnten bis zu zwanzig Kernkraftwerke in der DDR errichtet werden. Viel mehr als Rheinsberg aber gelang bis zum Ende der DDR nicht. Bis heute laufen allerdings in Rheinsberg und Stendal die Rückbauarbeiten zum Abriss der Kraftwerke. (mz)
Frühere Pläne aus den fortschrittsgläubigen 60ern, ein Atomkraftwerk ins ausgekohlte Geiseltal zu setzen, das damit zugleich Energieerzeuger und Naherholungsgebiet zu sein versprach, werden aus der Schublade gekramt. „Es gab konkrete Pläne, nach der Auskohlung ein KKW zu bauen“, erinnert sich Volker Schulze, der im Braunkohlewerk Geiseltal gearbeitet hat.
Andere Ex-Mitarbeiter berichten, dass ihnen schon mitgeteilt worden war, welche Umschulungen und Studiengänge sie absolvieren müssten, um später im neuen Werk arbeiten zu können.
DDR lobte die Atomenergie, setzte aber zunächst auf Öl aus der Sowjetunion
Daraus wird nichts, weil die DDR Anfang der 70er Jahre billiges Öl aus der Sowjetunion beziehen kann. Erst als es damit vorbei ist, lockt das Atom wieder, das nun in einem Papier aus dem Ministerrat als „strukturbestimmender effektiver Energieträger“ gelobt wird.
In Aktenordnern mit dem Stempel „Nur für den Dienstgebrauch“ verschiebt eine gemeinsame Arbeitsgruppe aus Energieminister, künftiger Betreibergesellschaft und den Behörden des Bezirkes Halle den geheimen Standort des geplanten Kernkraftwerkes nun nach Norden, von der Geisel an die Elbe.
Für acht bis neun Milliarden DDR-Mark soll ab 1982 gebaut werden, das ist Mitte der 70er beschlossen. Nach einem Protokoll der Abteilung Planung im DDR-Energieministerium von 1977 soll der Probebetrieb des Blocks I des KKW Dessau im vierten Quartal 1986 starten. Block II muss laut Plan ein Jahr später folgen.
Mit Problemen rechnet offenbar niemand. Künftige Auszubildende, das ist bereits festgezurrt, dürften „in den Bezirken Rostock, Potsdam, Neubrandenburg und Schwerin“ geworben werden, weist die staatliche Plankommission an.
DDR hatte genaue Planung für das Personal im Atomkraftwerk in Dessau
Mit zweimal 2 000 Megawatt Leistung aus insgesamt vier Reaktoren und 3 500 Mitarbeitern, darunter 1 000 Frauen, wie das Papier sehr genau festlegt, wäre damit ein zweiter Atomgigant neben dem KKW Stendal auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt entstanden.
Für den Chemiebezirk ein Befreiungsschlag, wie die Krisenzahlen zeigen, die für den Rat des Bezirkes zusammengefasst worden sind. Danach produziert die Energiewirtschaft um Halle 1 750 Megawatt. Der Verbrauch von Haushalten und Industrie in der Region aber liegt bei 3 200 Megawatt.
„Durch Bilanzdefizite kommt es zu Unterschreitungen bei Raumtemperaturen“, warnt das Energiekombinat. Die Zukunft sehe noch düsterer aus: Der Bedarf werde bis 1980 auf 4 900 Megawatt steigen. Möglichkeiten, die Braunkohleförderung entsprechend zu steigern, gebe es nicht.
Die DDR steht und fällt mit ihrer Wirtschaft, die aber hängt an der Chemie in Mitteldeutschland. Und die Chemieindustrie braucht so viel Energie, wie sie, so glaubt die SED-Führung, perspektivisch nur aus Atomkraftwerken kommen kann. Das ist der Grund für den riskanten Plan der „im Ballungsgebiet zu entwickelnden Kernenergieerzeugung“, von dem in und um Dessau niemand etwas erfahren soll.
Obwohl Angst vor der neuen Technologie damals noch unbekannt ist. „Atom war damals nicht böse, sondern Hoch-Technologie, die Frieden, Wohlstand und eine goldene Zukunft versprach“, beschreibt Jörg Möller, ein Magdeburger, der die Hochzeit der Atomkraft im ersten DDR-Atomkraftwerk in Rheinsberg am Stechlin-See im dünn besiedelten Norden von Berlin miterlebt hat.
Das Problem der DDR liegt darin, dass Kernkraftwerke von der Sowjetunion gekauft werden müssen. Und deren Industrie ist weder in der Lage, schnell zu liefern, noch ist sie flexibel genug, Kundenwünsche zu berücksichtigen.
Schon der Bau des KKW III bei Stendal, den der DDR-Ministerrat 1970 beschlossen hatte, lag 1980 zehn Jahre hinterm Zeitplan zurück - statt wie geplant 1981 in Betrieb zu gehen, waren 1982 gerade mal die Projektunterlagen fertig geworden. In Lubmin, dem Ort, an dem 1974 nach nur fünf Jahren Bauzeit das KKW II angelaufen war, endete der Versuch einer Modernisierung der veralteten Anlagen im Desaster: Anvisiert war ein Betriebsstart 1980, doch der erste neue Reaktor vom Typ WWER-440/213 ging schließlich erst 1989 in den Probebetrieb. Nach dem Mauerfall wurde das KKW II stillgelegt.
Atomkraftwerk in der DDR: Planungen für Standort Dessau bis ins kleinste Detail
Ein Ende, das für das KKW Dessau IV früher kam. Obwohl die Planungen auf regionaler Ebene nach den Unterlagen, die sich heute noch in der Merseburger Außenstelle des Landesarchives Sachsen-Anhalt finden, bereits bis in kleinste Details gingen, wurde aus den Papierbergen zum Thema nie ein konkreter Arbeitsauftrag.
„Wir haben das geplant, aber letztlich reichte die Kraft einfach nicht“, beschrieb DDR-Planungschef Gerhard Schürer später. Es fehlt an Geld, an Baukapazitäten, an der Kraft der Sowjetunion zu liefern. Er sei, so sagte Schürer später, jedoch spätestens nach dem Unglück von Tschernobyl mehr als froh darüber gewesen.
Schon die erste Baustufe des KKW II bei Greifswald war doppelt so teuer geworden wie geplant. Dennoch mehrten sich nach nur fünf Jahren Betrieb trotz des abgelegenen Standortes die Sicherheitsbedenken so sehr, dass ein milliardenschweres Erneuerungsprogramm nötig wurde.
Nach dem Atomunfall von Harrisburg in den USA brauchte dann auch die noch kaum begonnene Baustelle in Stendal Nachrüstung. Nun sollte ein sogenanntes Volldruck-Containment - ein Kuppelbau aus Beton - im Fall eines Falles dafür sorgen, dass Stendal, Magdeburg, Potsdam und Berlin vor den Folgen eines Reaktorunfalles geschützt sind.
Das Kernkraftwerk für Dessau existiert so nur in Form von Planungsunterlagen. Fest steht, dass im ersten Anlauf 420 Wohneinheiten für KKW-Mitarbeiter errichtet werden, offen ist nur, wo genau.
Ebenso beim geplanten Arbeiterwohnheim, das Platz für „2 x 700 Betten“ bieten soll, wie es in einem Papier heißt. „Der Mikrostandort des KKW ist noch nicht erarbeitet“, heißt es in einem Protokoll. Nach diesem Standort aber müsse die Infrastruktur sich ausrichten.
Das Problem: Zwar sind 135 Millionen DDR-Mark im Staatshaushalt eingestellt, aber das ist nicht genug. Ausgerechnet für die Bauarbeitergaststätte reicht es nicht. „Noch ist keine Finanzierung dafür bereitgestellt“, wie es heißt.
Als eine Baugrunduntersuchung Instabilitäten am Bauplatz in der Nähe der Elbe aufdeckt, wird es eng für das KKW Dessau. „Eine Verschiebung des Baugrundes ist nötig, damit aber würde das KKW auf dem Gebiet des Bezirkes Magdeburg liegen“, protokolliert die KKW-Planungsgruppe. Eine unerwartete Klippe, die man entschlossen zu umschiffen gedenkt: „Es soll beim Ministerrat eine Verschiebung der Bezirksgrenzen beantragt werden.“ Das geschieht dann aber nicht. Es geschieht gar nichts mehr. Nur Tschernobyl. Und danach ist die Luft raus aus der Atomfantasie im Politbüro. (mz)