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Gerichtspsychiater sieht „außergewöhnlichen Fall“ 78-jährige Ladendiebin kommt vor dem Landgericht Dessau um Haftstrafe herum

Eine Ladendiebin muss sich vor dem Landgericht verantworten. Die Frau muss nicht stehlen, greift aber immer wieder zu. Was der Psychiater herausfand.

23.04.2021, 12:04
Das Landgericht in Dessau.
Das Landgericht in Dessau. Foto: Ruttke

Dessau/Zerbst - Die Dame ist klein, schick angezogen und weiß, sich gut auszudrücken. Sie ist Ende 70, pensionierte Lehrerin – und angeklagt des Ladendiebstahls. Weil sie im Oktober 2019 in Zerbster Geschäften Kleinkram im Wert von 28 Euro gestohlen hat - was sie zugibt - hat das Amtsgericht Zerbst sie zu drei Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Ohne Bewährung.

Nun also sitzt die Dame neben ihrem Verteidiger im Landgericht Dessau und hofft, dort werde man am Ende milder urteilen. Wieder gibt sie die Taten zu und sagt: „Wenn ich etwas wegnehme, geht es mir besser. Aber schon wenn ich zu Hause bin, habe ich keinen Spaß mehr daran.“

Acht Einträge umfasst die Gerichtsakte der 78-jährigen Frau aus Zerbst

Es ist nicht dass erste Mal, dass die Frau mit Ladendiebstählen auffällt. Acht Einträge umfasst ihre Gerichtsakte, immer ließ sie „geringwertige Sachen“ mitgehen, wie es im Juristendeutsche heißt. Einmal schlug die 78-Jährige auf eine Frau ein, die sie auf frischer Tat stellen konnte. Es blieb bei einem blauen Flecken.

Ein „ungewöhnlicher Fall“, findet der erfahrene Gerichtspsychiater, der die Angeklagte seit dem Jahr 2014 kennt. Und ihre Lebensgeschichte, die von der ungerechten, harten und grausam strafenden Mutter geprägt ist. Die Tochter reagiert mit besonderem Wohlverhalten, mit Pflichttreue und zeigt hohe Leistungsbereitschaft, um die tiefe Selbstunsicherheit abzuwehren. Das habe, so der Psychiater, keinen Krankheitswert, berge aber die Gefahr einer Depression.

Als die Frau 40 ist, wird die zum ersten Mal bei ihr diagnostiziert. Die Zerbsterin wird nach damaligen Erkenntnisstand behandelt - aus heutiger Sicht falsch. Es fehlt ihr an psychischer Stabilität, den frühen Tod der Schwester zu verarbeiten, dann den Tod ihres Mannes vor ein paar Jahren. Es sind Ereignisse, die Schuldgefühle hervorrufen, die aber ins Leere laufen müssen, denn es ist da keine Schuld, die sie objektiv auf sich nehmen könnte. Die Diebstähle werden nach Einschätzung des Psychiaters zu Ersatzhandlungen, geben für kurze Zeit einen Grund zur Selbstanklage, bestätigen das in der Depression verinnerlichte negative Selbstkonzept.

Mehrfach begibt sich die Frau in psychiatrische Behandlung, lässt sich einweisen. Beim ersten Klinikaufenthalt wird die Depression nicht erkannt, das erfolgt erst beim zweiten. Inzwischen sind die kleinen Diebstähle zur Gewohnheit geworden.

Diebstähle sind für die Angeklagte ein Mechanismus, um auf Stress zu reagieren

„Geht es mir schlecht“, schildert der Psychiater ihren Mechanismus, „gehe ich klauen.“ Andere Mechanismen, mit Stress umzugehen, hat die Rentnerin nicht. Dazu kommt, dass eine altersbedingte hirnorganische Störung für eine eingeschränkte Steuerungsfähigkeit sorgt. Die Angeklagte ist also nur bedingt für ihr Tun verantwortlich, schlussfolgert der Psychiater. Die angeklagte Frau bedankt sich nach seinem Vortrag bei ihm: „Ich habe heute viel über mich gelernt.“

Das Gericht in Dessau spricht sie am Ende nicht frei, aber setzt die Strafe zur Bewährung aus. Und trägt der Angeklagten auf, weiter mit ihrem Bewährungshelfer zusammenzuarbeiten. Der zeigte sich im Gerichtssaal als umsichtiger Mann, gab seiner Mandantin Tipps: Nur einkaufen gehen, wenn wirklich notwendig, die Taschen an der Kasse abgeben, Tipps, die sie beherzigen will. Nun soll er ihr helfen, eine ambulante Psychotherapie zu finden. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.