30 Jahre Mauerfall 30 Jahre Mauerfall : Roßlauer war nach Wende einer der ersten Trabi-Fahrer in Nürnberg

Roßlau - Joachim Winterscheidt ist sich ganz sicher. „Ich war der erste Ostdeutsche, der wenige Stunden nach dem Mauerfall mit dem Trabi in Nürnberg war“, sagt der Roßlauer auf die Frage, welche Erinnerungen er mit der Wende im Herbst 1989 verbindet.
Dass der damals 42-jährige Technikleiter in einem Pflegeheim nach der im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz mit Günter Schabowski ausgerechnet in die Frankenmetropole aufbricht, hat einen einfachen Grund. „Unsere Tochter war mit Mann und Kind, unserem einzigen Enkel, im Frühjahr 1988 in die Bundesrepublik ausgereist. Für mich und meine Frau Christa war das furchtbar. Wir dachten, dass wir sie nicht wiedersehen werden.“
Daher verfolgen die Eheleute gespannt die Entwicklungen ab dem Sommer 1989. „Ob nun die Flucht über Ungarn und die besetzte Botschaft in Prag oder die Montagsdemonstrationen – wir haben das alles aufmerksam registriert.“
„In dem Moment hatte ich das Gefühl, dass alles noch kippen könnte“
Dennoch habe damals niemand wissen können, wie es genau weitergeht. Umso überraschter sei man gewesen, als man am 9. November zuerst die „Aktuelle Kamera“, dann die „Tagesschau“ sah und der historische Satz fiel. „Nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“, wiederholt Winterscheidt die Worte und meint: „Meine Frau und ich glaubten es anfänglich nicht, aber als wir dann die Bilder von den Ostberlinern am Schlagbaum sahen, sagt ich zu Christa: ’Bitte packe meine Tasche mit Schlafanzug und Zahnbürste. Ich fahre jetzt mit dem Trabant über Hof nach Nürnberg.’“
Gegen 22 Uhr startet Winterscheidt dann den Zweitaktmotor in Roßlau, kurz vor 1.30 Uhr erreicht er den Übergang. „Ich war der 27. Wagen, der an der Grenze stand, und das Thermometer an dem Kontrollhäuschen zeigte minus sieben Grad Celsius an“, erinnert sich der heute 72-jährige Rentner auch 30 Jahre später an jedes Detail. „Wegen der Kälte hatte ich einem Motorradfahrer ins Auto gelassen. Zusammen beobachteten wir, wie die Uniformierten sehr aufgeregt telefonierten.“
Alle seien sehr angespannt gewesen, keiner habe gelacht. „In dem Moment hatte ich das Gefühl, dass alles noch kippen könnte.“ Doch dann, etwa zwei Stunden später, geht unter Jubel- und Beifallsstürmen der Schlagbaum hoch. „Ich bekam einen Stempel in den DDR-Ausweis und konnte die Grenze passieren.“
Am Freitagmorgen gegen 6.30 Uhr ist der Trabant am Stadtrand von Nürnberg
Kurz dahinter hat das Deutsche Rote Kreuz ein großes und beheiztes Zelt aufgebaut. „Wir wurden mit Blumen überschüttet und es gab warme Getränke. Wir hatten alle Tränen in den Augen und konnten nicht glauben, drüben zu sein. Das war Gänsehaut pur.“
Nachdem sich Winterscheidt aufgewärmt hat, geht es in dem weißen Trabant Kombi in Richtung Meistersingerstadt. Am Freitagmorgen gegen 6.30 Uhr ist er am Stadtrand von Nürnberg und hat ein Taxi neben sich. „Ich fragte den Fahrer, wie ich zu der Straße, in der die Tochter wohnte, komme“, erzählt er und sagt: „Der Mann funkte daraufhin seine Kollegen an und mindestens zehn Taxis eskortierten mich zu der Adresse. Das hat sich wie ein Staatsbesuch angefühlt.“ Man habe ihm auch gesagt, dass das der erste Trabant in Nürnberg ist.
Wenig später kommt der Konvoi an dem Haus an. „Ich habe geklingelt. Meine Tochter hat zwar herausgeschaut und den Trabi in der Mitte des Platzes mit all den Taxis gesehen, aber nicht gleich realisiert, was hier gerade passiert.“ Erst nach mehrmaligem Klingeln und vorfreudigem Winken erkennt sie irgendwann ihren Papa und läuft schnell hinaus.
Bis zum Sonntag bleibt der Roßlauer in Nürnberg
„Während wir uns minutenlang in den Armen lagen und weinten, gab es ein Dauerhupkonzert der Taxifahrer.“ Danach gehen Tochter und Vater in die Wohnung, essen Frühstück und rufen im Betrieb der Mutter und Ehefrau an. „Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, weil ich ja nicht wusste, ob mein Mann angekommen ist“, erinnert sich Christa Winterscheidt.
Bis zum Sonntag bleibt der Roßlauer in Nürnberg. Bevor er wieder zurück nach Hause fährt, wird das Auto bis unters Dach mit Apfelsinen- und Bananenkisten sowie Werkzeug, einer Mikrowelle und Langlaufski vollgepackt. „Wir waren uns ja zu dem Zeitpunkt immer noch nicht sicher, ob die Grenzen dauerhaft geöffnet bleiben oder wieder geschlossen werden.“
Seit drei Jahrzehnten gehören die Erzählungen über die Abenteuer- und Wendereise zur Familientradition
Auch daher ist der Abschied zwischen Vater und Tochter lang und emotional. Als Winterscheidt wieder zurück in Roßlau ist, erzählt er seiner Frau die ganze Nacht lang von seinen Erlebnissen. 14 Tage später fahren beide zusammen mit dem jüngsten Kind, das zu diesem Zeitpunkt zu Hause wohnt, zur Tochter nach Nürnberg.
„Bis heute haben wir ein sehr gutes Verhältnis und sehen uns mehrmals im Jahr, etwa an den Weihnachtsfeiertagen“, sagt Christa Winterscheidt. Seit mittlerweile drei Jahrzehnten gehören die Erzählungen über die Abenteuer- und Wendereise zur Familientradition. „Ich werde die Maueröffnung nicht vergessen. Obwohl das alles 30 Jahre her ist, habe ich, wenn ich zurückdenke, immer noch Tränen in den Augen“, so Joachim Winterscheidt. (mz)
