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Vom Farbfilm bis zum Wurstdarm Vom Farbfilm bis zum Wurstdarm: Was ist von der Filmfabrik in Wolfen übrig geblieben?

Von Erhard Finger 05.06.2018, 08:31
Kurz nach der Wende standen auf dem Gelände der Filmfabrik noch viele der alten Produktionsgebäude.
Kurz nach der Wende standen auf dem Gelände der Filmfabrik noch viele der alten Produktionsgebäude. Michael Maul

Wolfen - Im Juni vor 20 Jahren entschied sich ein Schicksal: Die Filmfabrik Wolfen GmbH, das ehemalige Geschäftsfeld Film der Filmfabrik Wolfen AG, verschmolz mit der Bitterfelder Vermögensverwaltungs Chemie GmbH. Es war das Ende des letzten Produktionsbereichs der ehemaligen Filmfabrik Wolfen, mit dem vor 89 Jahren der Aufbau des Unternehmens begann.

Einstige Filmfabrik: Im Jahr 1927 knapp 6.000 Beschäftigte

Das Werk war von der in Berlin ansässigen „Actien-Gesellschaft für Anilin-Fabrikation“ (Agfa) zur Herstellung von Filmen für die aufstrebende Kinoindustrie errichtet worden, später wurde das Sortiment durch Filme für die Fotografie erweitert. Röntgenfilme, Materialien für die Druckindustrie und Filme für die Luftbildfotografie kamen hinzu. Nach der dritten Ausbaustufe avancierte das Unternehmen 1927 mit knapp 6.000 Beschäftigten zum bedeutendsten der Branche in Europa und nach Kodak zum zweitgrößten der Welt.

1930 hatte die Filmfabrik ein Verfahren ausgearbeitet, das die Herstellung von Farbfilmen erlaubte und schon ein Jahr später zum ersten deutschen Farbkinofilm „Bunte Tierwelt“ führte. Mit der Einführung eines Farbfilms für die Fotografie 1932 ist die Einführung des Warenzeichens Agfacolor verbunden. Vier Jahre später wurde mit Agfacolor-Neu ein Verfahren präsentiert, das dem Farbfoto quasi für jedermann zum Durchbruch verhalf.

Als die Schäden an den Anlagen durch Bomben der Alliierten drastisch zunahmen, entschied das Oberkommando des Heeres 1943, in der Filmfabrik eine zweite Produktionslinie zur Fertigung des militärstrategisch wichtigen Magnettonbandes aufzubauen. Jahrelange Forschungsarbeiten in Wolfen waren ausschlaggebend für diese Entscheidung und die Tatsache, im selben Jahr bereits 3.000 Kilometer Magnettonband liefern zu können.

Wolfen als  Zentrum der Faserforschung 

Neben der Filmproduktion entstand die Kunstfaserherstellung: Das hatte seinen Grund im starken Absatzrückgang von Film während des 1. Weltkrieges. Man brauchte dringend Alternativen. Eine versprach die Viskoseseide auf Basis modifizierter Holzzellulose. Mit der Weiterverarbeitung der Faserzellulose zur Viskosefaser vor Ort avancierte die Filmfabrik zum weltweit größten Textilzellstoff-Hersteller mit angeschlossener Faserfertigung weltweit. Viskoseschwämme und Wurstdärme waren weitere nach diesem Verfahren hergestellte Erzeugnisse.

931 wendete man sich in Wolfen, inzwischen Zentrum der Faserforschung des gesamten I.G. Farbenkonzerns, der Entwicklung vollsynthetischer Textilfasern zu. 1934 war die erste vollsynthetische Faser der Welt auf Basis Polyvinylchlorid produziert. Die Welt staunte über die „Spinnfaser aus Kohle und Kalk“. Die war vorerst wichtig vor allem für Fallschirme.

Mit der Besetzung und Okkupation großer Teile Europas eroberte sich Deutschland einen gewaltigen Arbeitskräftemarkt. An der Aufteilung der Zwangsarbeiter beteiligte sich auch die Filmfabrik. So arbeiteten ausländische Zwangsarbeiter in der Herstellung von Cordseide für die Flugzeugreifenproduktion.

Die Ablaugen der Zellstoffgewinnung wurden genutzt für die Produktion von Futterhefe. Das brachte zugleich eine Reduzierung der Abwasserbelastung. Nach dem zweiten Weltkrieg erlangte das so gewonnene Eiweiß in Lebensmittelqualität als Nährhefe auch für die menschliche Ernährung Bedeutung.

Schwieriger Neubeginn: Nachkriegszeit unter sowjetischer Besatzung

Der schwierige Neubeginn fällt ins Jahr 1945. Nach dem Abzug der Amerikaner übernahm die sowjetische Militäradministration das Werk und leitete erste Maßnahmen zur Wiederaufnahme der Produktion ein. Die Filmfabrik wurde in die sowjetische Aktiengesellschaft „Photoplenka“ integriert. Trotz der enormen Probleme - 14 Prozent der Anlagen waren zerstört - konnte 1946 mit der Wurstdarm-Produktion ein weiteres Erzeugnis auf der Basis des Viskoseverfahrens eingeführt werden. Perlondrähte und -seiden folgten, sie wurden auf Polyamidbasis hergestellt.

Mit der Übergabe der Filmfabrik an die DDR am 31. Dezember 1953 firmierte das Werk unter VEB Film- und Chemiefaserwerk Agfa Wolfen. 1964 trennte sich die Filmfabrik vom Warenzeichen Agfa und vertrieb ihre fotochemischen Erzeugnisse und die Magnetbänder unter dem bereits 1954 angemeldeten und auch für Chemiefasererzeugnisse genutzten Warenzeichen ORWO. Vier Jahre später trimmte die DDR-Regierung die Fabrik auf Film - eindeutig zulasten des Fasersektors. Zwischen 1967 und 1971 wurde die Dederon- und Wolprylaproduktion eingestellt.

Als Leitbetrieb des Fotochemischen Kombinates (FCK) avancierte die Filmfabrik 1970 zur Leit- und Planungsstelle einer Branche - 1985 mit schließlich fast 22.000 Beschäftigten. Ab 1990 dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt, ging der Absatz an Filmen drastisch zurück. Hinzu kam die schrittweise Ablösung der Film- durch die Digitalfotografie. Die Folge: die Produktion wurde unwirtschaftlich. Nach erfolglosen Versuchen, den Filmbereich zu privatisieren, musste 1994 die Liquidation der Filmfabrik Wolfen GmbH eingeleitet werden.

Wegweisende Erfindungen in der Filmfabrik

Die Filmfabrik Wolfen ist zwar Geschichte, doch in Erinnerung bleiben Erfindungen, wie die erste vollsynthetische Faser der Welt und das Agfacolor Neu-Verfahren, die für ihre Branche zukunftsweisend waren. Ab 1991 übernahmen Mitarbeiter der Filmfabrik Bereiche und gründeten Firmen. 1999 beschäftigten 13 ausgegründete Unternehmen rund 700 Mitarbeiter.

Sie fertigen Folien, Spezialchemikalien, Spezialmaschinen, sie sind Spezialisten der Metallveredlung sowie Kalibrierung. Zwei Firmen sind weiterhin dem Film beziehungsweise der Fotografie verbunden: Mit FilmoTec Wolfen fertigt eine Firma mit 20 Mitarbeitern Spezialfilme für die Archivierung und mit OrwoNet ist ein Dienstleister mit rund 350 Beschäftigten am traditionellen Ort in der Fotobranche tätig.

1992 kam es zur Spaltung der Filmfabrik Wolfen AG in die Wolfener Vermögensverwaltungs AG mit den weitgehend stillgelegten Zellstoff- und Faseranlagen und der Filmfabrik Wolfen GmbH, in der die Filmproduktion fortgeführt wurde.

1994 wurde die Liquidation der Filmfabrik eingeleitet, nachdem eine Privatisierung gescheitert war.

Die Verschmelzung der Filmfabrik mit der Bitterfelder Vermögensverwaltung Chemie im Juni 1998 fixiert das juristische Ende der Filmfabrik Wolfen.

(mz)

Die Emulsionsfabrik war das größte Rückbauprojekt.
Die Emulsionsfabrik war das größte Rückbauprojekt.
Michael Maul