Realität oder Rufmord? Realität oder Rufmord in Wolfen-Nord? Warum die RTL 2-Doku "Hartz und herzlich" so polarisiert
Bitterfeld-Wolfen - Im Wohnzimmer von Anke Sommer steht ein großer Computertisch. Auf dem Bildschirmmonitor flimmern Einträge ins Soziale Netzwerk Facebook. „Ich betreue die Seite Kofferradio“, sagt die 75-jährige Rentnerin aus Bitterfeld-Wolfen stolz. Auf ihrer privaten Facebook-Seite schreibt sie sich auch mit „Uwe“ und „Armin“, wie sie erzählt.
Sommer wohnt im Neubau-Bezirk Wolfen-Nord. Dort gibt es seit drei Wochen nur noch ein großes Thema: „Hartz und herzlich“ - eine Sozialreportage des Privatsenders RTL 2 über das Leben von Hartz-IV-Empfängern. Sommer spricht lieber von einer Sensationsreportage, „die immer die gleichen Bilder von asozialen Familien und Arbeitsscheuen zeigt“.
Die Rentnerin sieht den Ruf ihres Viertels massiv beschädigt - sie schreibt darüber auf Facebook, an die MZ und RTL 2. Uwe und Armin hätten sie darin bestärkt. Dabei handelt es sich um den Landrat von Bitterfeld-Wolfen, Uwe Schulze, und Armin Schenk, der Oberbürgermeister der Stadt Bitterfeld-Wolfen.
RTL-2-Doku aus Wolfen-Nord: Viele Anwohner sehen ihr Viertel verunglimpft
Ein paar Blocks weiter wohnt Yvonne. Die Hartz-IV-Empfängerin ist eine der Akteurinnen der Sendung. Mit Kaffeetasse und Zigarette steht sie wie im Film auf dem Balkon. „Nein, über die Sendung darf ich nicht sprechen. Das haben wir unterschrieben“, sagt sie. Yvonne wird in den drei Teilen der Dokumentation als herzliche Frau dargestellt, die mit ihren vier Kindern zusammenwohnt.
Ihr Freund Pascal ist auch meist da - wohnt aber nicht in der Wohnung. Yvonne sagt im Film, dass sie monatlich mehr als 2.000 Euro kassiert. „Finde mal einen Job, der so viel Kohle bringt.“ Ist die Couch kaputt, hat sie schon einen Antrag zur Hand, um sich vom Amt eine neue bezahlen zu lassen. Negative Reaktionen auf die Sendung habe sie aber nicht erfahren. „Gestern war ich im Supermarkt, da kommt ein Typ auf mich zu und fragt: Bist Du’s?“ Sie hätten dann gleich vor Ort mit dem Smartphone ein Selfie gemacht. Die Aufmerksamkeit gefällt ihr.
Die Produktionsgesellschaft Ufa Show hatte von Anfang 2017 bis Sommer bei verschiedenen Hartz-IV-Empfängern in Wolfen-Nord gedreht. „Die Dokumentation versucht, eine möglichst realitätsnahe Abbildung des Lebens in den Plattenbauten zu zeigen“, erklärte RTL2 auf MZ-Anfrage. In dem Stadtteil wohnten früher viele Arbeiter der ehemaligen Filmfabrik Wolfen. Nach der Wende zogen tausende Menschen weg, ihre Häuser wurden abgerissen. „Jeder zweite Bewohner lebt heute von Hartz IV und anderen Sozialleistungen“, heißt es im Vorspann der Sendung.
Jenny aus Wolfen-Nord hat lieber mehr Kinder als einen Job
Schon da wird es mit der Realität nicht ganz so genau genommen. Das kommunale Jobcenter „Komba“ teilt mit, dass nur 20 Prozent der rund 7.200 Einwohner Hartz IV beziehen. In den drei Folgen geht es auch nicht um Bitterfeld-Wolfen mit der Goitzsche als neuem Wassersportgebiet, es geht nicht um den Chemiepark - noch nicht einmal um sanierte Neubauten und das Mehrgenerationenhaus in Wolfen-Nord.
Es geht um einen abrissreifen Block in der „Straße der Völkerfreundschaft“, in der auch Jenny lebt. Die 26-Jährige, die ein fein geschnittenes Gesicht aber nur noch wenige Vorderzähne hat, stößt bei der Erziehung ihrer Kinder an Grenzen. Zum Thema Arbeit hat Jenny eine klare Meinung: „Lieber bekomme ich noch zwei Kinder.“ Mit Kinderwagen und Hund läuft sie an Abbruchhäusern vorbei.
Die Aussicht auf Krawall und Fremdschämen verspricht beste Quoten: Die erste Folge von „Hartz und herzlich“ aus Wolfen-Nord verfolgten auf dem Sender RTL 2 zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr rund 1,3 Millionen Fernsehzuschauer. Damit erreichte die Sendung insgesamt eine Quote von 4,7 Prozent sowie 8,6 Prozent Zielgruppen-Marktanteil.
Die zweite der insgesamt drei Folgen erreichte immerhin noch 1,2 Millionen Zuschauer. Gefilmt wurden die Beiträge von der Produktionsgesellschaft Ufa Show, die auch schon die vorherige Staffel in Duisburg produzierte. Die neunzigminütigen Folgen sind auch nach der TV-Ausstrahlung auf der Internetseite des Senders abrufbar.
Internetseite zur Sendung: rtl2.de/sendung/hartz-und-herzlich
Die Macher sehen ihre Sendung selbst als Sozialdokumentation. „Inklusive der Recherchephase hat die beauftragte Produktionsfirma über ein Jahr Arbeit für die Reportage aufgewendet und mit etlichen Personen und Institutionen - darunter auch der örtliche Kindergarten in Wolfen-Nord und die Kleidersammlung des Roten Kreuzes - Gespräche geführt“, erklärt RTL 2.
Eine der erfolgreichsten Sendungen dieses Formats war die „Super Nanny“ auf RTL, bei der Katharina Saalfrank Familien bei Erziehungsfragen beriet. Meist werden mit den Akteuren mehrere Interviews geführt und Alltagsszenen gedreht, die dann zu Beiträgen zusammengeschnitten werden. In welchem Umfang dem ein Drehbuch zugrunde liegt, verraten die Filmemacher jedoch nicht. (mz/sth)
Es gibt kaum ein Klischee, welches in der Doku nicht bedient wird - doch geschauspielert wurde offenbar nicht. Teilnehmer der Sendung, die nicht genannt werden wollen, sagen: „An den ersten Tagen war es schon komisch, dass auf einmal Kameraleute in der Wohnung waren, doch irgendwann ist das vollkommen normal gewesen.“ Es sei auch kein Geld geflossen, heißt es. Überprüfen lässt sich das nicht, da sich RTL 2 „zu produktionellen Details nicht äußert“. Yvonne steht zu ihren Aussagen in der Sendung: „Hier leben die Vergessenen. Abends kommen hier nur die Rehe.“
Anke Sommers Realität ist eine ganz andere: „Ich habe hier 40 Geschäfte, drei Apotheken und vier Supermärkte.“ Auch sie muss schauen, wie sie mit ihrem Geld zurechtkommt. Nach Abzug der Miete bleiben ihr 300 Euro im Monat. „Das sind 75 Euro in der Woche und dennoch laufe ich nicht zahnlos durch die Gegend“, sagt sie. Auch Sommer, die seit Jahrzehnten an einer Gelenkerkrankung leidet, hat früher im Filmkombinat gearbeitet.
Nach der Wende musste sie dreimal in Wolfen-Nord umziehen, weil ihr Block abgerissen wurde. Auch sie könnte jammern. Tut sie aber nicht. „Man kann nicht immer andere für sein Leben verantwortlich machen“, sagt sie. „Arbeitsfaule gibt es hier in Wolfen-Nord nur wenige.“ Der Ortsbürgermeister von Wolfen, André Krillwitz, sieht die ganze Stadt diskreditiert: „Das grenzt schon an Rufmord.“
Ist das so? Der Soziologe Hans-Albert Wulf beschäftigt sich seit Jahren mit dem Phänomen der sozialen Ausgrenzung: „Mit solchen Sendungen wird eine Stigmatisierung aller Hartz-IV-Bezieher betrieben.“ Umfangreiche Studien der Universität Jena hätten ergeben, dass 40 Prozent der Deutschen meinen, Hartz-IV-Empfänger seien faul. Tatsächlich würden aber nur acht Prozent der Hilfsempfänger nicht arbeiten wollen oder können. Nach Ansicht von Wulf geht die Botschaft solcher Sendungen weniger an die Hilfsempfänger als an jene, die arbeiten: „Passt auf, sonst geht es auch euch so.“
Wulf spannt einen großen historischen Bogen: Im 16. Jahrhundert sei „Hartz und herzlich“ das Teufelsbuch mit dem Faulteufel gewesen. So heißt es in einer Vorschrift von 1772: „Die Notdürftigen, die der Staat unterhält, müssen ein schlechteres und beschwerlicheres Leben führen als der große Tagelöhner-Haufen, der, der nicht bedürftig ist. Denn sonst würde sich niemand scheuen, bald oder spät dem Staat zur Last zu fallen.“
Die Hartz-IV-Empfängerin Jenny aus dem Block ist also eine Art Faulteufel der Gegenwart? Das wäre dann vielleicht doch zu einfach. Einen ungefilterten Eindruck über die Lage vieler Hartz-IV-Empfänger bekommen die Mitarbeiter des kommunalen Jobcenters „Komba“ in Bitterfeld-Wolfen. „Fast alle, die Arbeit suchen, finden auch welche“, sagt „Komba“-Chef Volker Krüger. „Vor zehn Jahren hätte ich diesen Satz nicht gesagt.“ Im Vergleich zu 2011 sei die Zahl der Hilfsempfänger im Landkreis um 23 Prozent auf nun rund 13.000 gesunken. Viele Unternehmen würden inzwischen auch Mitarbeiter einstellen, die nicht ganz perfekt ins Einstellungsprofil passen.
„Hartz und herzlich“ aus Bitterfeld-Wolfen: Jobcenter fehlt auch Geld
Krüger spricht allerdings auch darüber, dass es eine größere Zahl von Langzeitarbeitslosen gibt, die nur noch sehr schwer vermittelt werden können. Im Verwaltungsdeutsch heißt es, sie hätten „mehrere Vermittlungshemmnisse“. Dahinter verbergen sich oft ganze Lebensgeschichten von abgebrochenen Ausbildungen, Krankheiten und/oder Drogenmissbrauch. In der Arbeitsgesellschaft von heute, die sich immer mehr beschleunigt, haben sie wenig Chancen. Soziologe Wulf bringt die Extreme in einem Satz auf den Punkt: „Es gibt Menschen, die 16 Stunden am Tag arbeiten und danach noch Joggen gehen, und welche, die nicht einmal drei Stunden durchhalten.“
Viele der in der RTL-2-Doku gezeigten Personen, gehören zur zweiten Gruppe. Doch in der Öffentlichkeit werden die Probleme dieser Menschen kaum noch diskutiert - im Bundestagswahlkampf spielte Hartz IV nur noch bei der Linken eine größere Rolle. Von daher legt die Reportage auch den Finger in eine Wunde, die viele Bürger lieber nicht sehen wollen - schon gar nicht im eigenen Viertel.
„Wir haben hier schon einige Jennys bei uns“, sagt „Komba“-Chef Krüger. Das Jobcenter versucht immer öfter, den Hilfsempfängern nicht nur eine neue Arbeitsstelle zu vermitteln, sondern sie auch anschließend zu betreuen. „Häufig stoßen wir dann selbst aber an finanzielle Grenzen“, erläutert Krüger. Mit dem Rückgang der Leistungsbezieher sinkt auch das Budget des Jobcenters. „Unser Betreuungsaufwand verringert sich aber nur wenig“, so Krüger. Er plädiert dafür, wieder einen sozialen Arbeitsmarkt zu schaffen, der Langzeitarbeitslosen ermöglicht, in der Arbeitswelt wieder Fuß zu fassen.
Doch selbst die beste Hilfe würde manche Probleme nicht lösen. Der „Komba“-Chef macht auch keinen Hehl daraus, dass einige „Kunden“ wie er die Hartz-IV-Empfänger nennt, das Sozialsystem auch ausnutzen. So ist in der RTL-2-Reportage auffällig, dass fast alle Paare, bei denen ein Familienmitglied arbeitet, getrennt leben - vorzugsweise der Mann bei den Eltern.
Der Grund dürfte simpel sein. Verdienste des Partners werden nur dann auf die Sozialleistungen angerechnet, wenn beide zusammenleben. „Wir beobachten so etwas immer wieder, doch Klagen vor Sozialgerichten sind meist erfolglos“, sagt Krüger. Das Amt müsste den Missbrauch von Sozialleistungen genau nachweisen. „Unsere Mitarbeiter sind aber keine Detektive, die den Hilfsempfängern nachschnüffeln.“
Und so bildet sich nicht nur in Wolfen-Nord, sondern auch in anderen Plattenbauvierteln in Sachsen-Anhalt, eine Art Parallelgesellschaft heraus. Der überwiegende Teil der Bevölkerung denkt und lebt wie Frau Sommer. Gleich daneben wohnen die „Abgehängten“, die für sich in der Arbeitswelt kaum mehr Chancen sehen und daher das Sozialsystem so weit wie möglich für sich nutzen. (mz)