Plötzlich Patientin Plötzlich Patientin: Eine schwere Erkrankung bremst Ursula Zeidler, doch sie kämpft

Bitterfeld/Leipzig - Wenn alles versagt, dann werden selbst vermeintliche Kleinigkeiten zu großen Zielen. Eines davon hat Ursula Zeidler gerade erreicht: Endlich wieder normal essen können. Mit allen anderen Patienten zusammen im Speisesaal des Neurologischen Rehabilitationszentrums Leipzig.
Drei Gerichte zur Auswahl. Jeden Tag. Bisher hieß essen für sie: In der 3. Etage unter Aufsicht, nur Schmierwurst und Streichkäse auf Brot oder Kartoffelbrei mit Soße, dazu immer die Angst zu ersticken, falls sich Speisebrocken in die Luftröhre verirren. Ursula Zeidler aus Gossa (Kreis Anhalt-Bitterfeld) hat in den vergangenen Monaten wieder lernen müssen zu sprechen, zu gehen, zu schlucken.
Das nächste große Ziel ist ein Datum, es steht auf ihrem wöchentlichen Therapieplan oben rechts: 14.09.2018 – der voraussichtliche Tag ihrer Entlassung. Wenn Ursula Zeidler, 69, dann die Klinik verlässt, wird sie ihr Haus und ihren Garten am Rand der Dübener Heide für 197 Tage nicht gesehen haben.
Ursula Zeidler: „Sie haben mich überall aufgeschnitten“
Am 28. Februar, einem Mittwoch, ruft Zeidler den Notdienst. Am Tag vorher hat sie es schon beim ärztlichen Bereitschaftsdienst probiert – Angina, sagt der diensthabende Arzt, als sie über ihre heftigen Halsschmerzen klagt. Doch sie zweifelt. Die Tabletten, die sie nimmt, helfen nicht, anders als sonst. Sie ist verunsichert. Als es nicht besser wird, wählt sie einen Tag später die 112. Ihr Glück, wie sich zeigen wird.
Ein Rettungswagen bringt sie ins Krankenhaus nach Bitterfeld. Dann geht alles ganz schnell. Eine Notoperation. Am nächsten Tag wird sie nach Halle verlegt, erst ins Martha-Maria in Halle-Dölau, dann ins Uniklinikum. Weitere Operationen folgen. Fünf werden es am Ende sein. Ursula Zeidler trägt Pflaster am Hals. „Sie haben mich überall aufgeschnitten“, sagt sie, „am Hals, am Rücken, überall“. In der Uniklinik wird sie für drei Wochen in ein künstliches Koma versetzt. „Als ich wieder wach war, konnte ich weder sprechen noch laufen.“
Mediastinitis kann tödlich enden
Mit einer Entzündung der Mandeln und des Gaumens fing es an, harmlos eigentlich. Dann entzündete sich das Halsgewebe, es bildeten sich Abszesse, sogar am Bein. „Das muss man sich vorstellen wie kleine abgekapselte Entzündungen“, sagt Tatjana Weiß, die behandelnde Ärztin im Reha-Zentrum. Es sei ungewöhnlich, dass sich eine Entzündung so weit ausbreite.
Der medizinische Fachbegriff für Ursula Zeidlers Leiden lautet Mediastinitis. Eine schwere Erkrankung, die tödlich enden kann, wenn sie nicht sofort behandelt wird. Bei Zeidler waren auch Nerven angegriffen, das schränkte ihre Fähigkeit zu schlucken ein.
Seit Anfang Mai tastet sie sich im Reha-Zentrum in Bennewitz östlich von Leipzig ins Leben zurück, eine schmale kleine Frau mit dünnen weißen Haaren. Ihr Therapieplan ist voll: Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie, Sport. Die Klinik-Aufenthalte, das lange Liegen, ließen Muskeln und Gewebe erschlaffen. Die Ärztin sagt, das lasse sich wieder in den Griff kriegen. „Die Prognose ist gut, aber der Patient muss den Willen haben mitzumachen.“
Ursula Zeidler macht mit. Anfangs bewegt sie sich mit Hilfe eines Rollators fort. „Irgendwann sagte ein Therapeut: Sie schaffen das ohne.“ Sie schafft es. Schritt für Schritt, mit großer Energie. Sie schafft auch wieder Treppen. Stufe für Stufe. „Davor hatte ich eine extreme Angst.“
Der 28. Februar reißt Ursula Zeidler aus einem Leben, in dem sie sich ohne Rücksicht auf die eigene Person für andere einsetzt. Sie ist so etwas wie die gute Seele von Gossa, 800 Einwohner, Gemeinde Muldestausee. Seit fast einem Vierteljahrhundert sitzt sie im Gemeinderat. Sie ist Vize-Bürgermeisterin, arbeitet im Sozialausschuss und im Ortschaftsrat mit, hat die Arbeitslosenhilfe mitgegründet, organisiert den Rentnernachmittag und das Frauenfrühstück. Sie war zeitweise Schiedsfrau und Jugendschöffin. Bis zu ihrem 60. Geburtstag hat sie obendrein noch voll gearbeitet, erst im Bitterfelder Rathaus, dann bei einer Betreiber-Gesellschaft des Tagebausees Goitzsche. „Urlaub und Freizeit kenne ich nicht“, sagt sie. Ihr Selbstverständnis, in einem Satz: „Entweder man macht etwas mit ganzem Herzen oder gar nicht.“
Von 100 auf Null: Krankheit bremst Ursula Zeidler aus
Ursula Zeidler fuhr immer mit Vollgas. Bis die Erkrankung sie ausbremste, von 100 auf Null. Nun ist sie plötzlich Patientin. Seit dem 28. Februar denkt sie darüber nach, ob ihr Körper ihr etwas sagen wollte.
Neben Gemeinderatssitzung, Frauenfrühstück und Rentnernachmittag hat Ursula Zeidler zwei Jahre lang ihren Mann zur Chemotherapie nach Halle begleitet, alle 14 Tage. Bis er 2016 den Kampf gegen den Krebs verlor. Sie besuchte jede Woche ihre Mutter im Pflegeheim, bis diese im Frühjahr starb. „Das lief ab wie in einem Film“, sagt sie heute, „ich frage mich, wie ich das alles bewältigt habe.“ Ja, wie? War es am Ende doch zu viel? Gibt es einen Zusammenhang zu ihrem Zusammenbruch? Belegen lässt sich das nicht, doch sie sagt: „Ich denke schon, dass meine Belastung ein Auslöser war. An mich selber habe ich ja gar nicht mehr gedacht.“
Seit dem 28. Februar gibt es nur noch sie. Der Therapieplan strukturiert ihren Tag. Und der Blick aus dem Fenster ihres Zimmers in der 4. Etage auf den großen Parkplatz der Klinik. Um halb zwölf kommt das Postauto, und mit ihm die druckfrische tägliche MZ, Lokalausgabe Bitterfeld. Sie hat im Blick, wenn ihre Besucher kommen, die sich tags zuvor telefonisch angekündigt haben. Und sie kann ihnen noch einmal winken, bevor sie das Klinikgelände wieder verlassen.
Erst in der Reha gelernt, was Ruhe ist
Ihre beiden Töchter besuchen sie sooft es geht. Wenn es nicht geht, bleibt das Telefon. Und der Brief, den ihre jüngere Tochter und ihr achtjähriger Enkelsohn ihr geschrieben haben. Ein Schreibheft, A 5 im Querformat, große Schrift, Fotos von der Familie, viele rote Herzchen: „Wir vermissen dich schrecklich!“
Ursula Zeidler sagt, sie habe erst in der Reha gelernt, was Ruhe ist. Und doch ist sie schon hibbelig bei dem Gedanken an die Zeit danach. Gemeinderat, Rentnernachmittag, Frauenfrühstück – sie hat sich vorgenommen, wieder voll einzusteigen. Schon jetzt lässt sie sich Unterlagen aus Ratssitzungen in die Klinik schicken. „Ich muss doch im Stoff stehen“, sagt sie.
Und sie selbst? Hat sie sich vorgenommen, künftig mehr auf sich zu achten? Ursula Zeidler will ehrlich sein, sie grinst verschmitzt: „Ich werde mir Mühe geben.“ Sie brauche den Trubel, sagt sie, „aber vielleicht muss ich alles ruhiger angehen.“
Das wäre ein Anfang. (mz)