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Was lässt einen Menschen so grausam werden? Kälte, Hunger, Tod - eine Geschichtsstunde in Muldenstein

Ein Live-Hörspiel in der Gemeinschaftsschule Muldenstein zeigt den Schülern die Schrecken des Holocausts – mit Szenen, die Fassungslosigkeit auslösen und lange nachwirken.

Von Thomas Schmidt 25.02.2025, 19:25
Mit eindringlichen Worten bereitet Thomas Darchinger die Jugendlichen auf eine Lesung vor, die sie tief erschüttern wird.
Mit eindringlichen Worten bereitet Thomas Darchinger die Jugendlichen auf eine Lesung vor, die sie tief erschüttern wird. Fotos: Thomas Schmidt

Muldenstein/MZ. - In der Turnhalle der Gemeinschaftsschule Muldenstein erlebten Schülerinnen und Schüler der achten und neunten Klassen eine Geschichtsstunde, die sie so schnell nicht vergessen werden. Die Veranstaltung basierte auf der Autobiografie „Das andere Leben“ des Holocaust-Überlebenden Solly Ganor, dessen Erinnerungen in einer szenischen Lesung mit Musik und Bildprojektionen eindrucksvoll zum Leben erweckt wurden.

Terror der SS

Zu Beginn richtete sich Thomas Darchinger mit eindringlichen Worten an die Jugendlichen. Geschichte sei keine bloße Aneinanderreihung von Daten, sondern bestehe aus realen Schicksalen, erklärte er. „Über sechs Millionen Juden wurden ermordet. Über 60 Millionen Menschen starben im Zweiten Weltkrieg. Und es begann mit einer demokratischen Wahl.“ Dann wurde es still in der Turnhalle. Die Lesung setzte ein: ruhig, fast harmlos, doch schnell breitete sich eine beklemmende Atmosphäre aus. Ganor beschrieb, wie die SS die jüdischen Familien aus ihren Häusern riss. Er erinnerte sich an eine Mutter, die ihr Baby nicht loslassen wollte. Ein Soldat nahm ihr das Kind aus den Armen, hielt es kurz hoch und schleuderte es gegen eine Steinmauer. Kein Schrei, nur ein dumpfes Geräusch. Die Mutter wurde mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen. Einige Schülerinnen und Schüler hielten sich die Hände vors Gesicht.

Auf dem Transport ins Lager wurde den Gefangenen das Wasser verweigert. Als Ganor beobachtete, wie ein alter Mann mit zitternden Händen ein paar Schneeflocken auffing, trat ein SS-Mann heran und lachte. „Durst du dreckiger Jude?“, fragte er. Dann riss er den Mann aus der Reihe und drückte ihm den Lauf seiner Pistole an die Schläfe. Ein Knall, ein Sturz – der Körper verschwand zwischen den Beinen der anderen Häftlinge.

Erschütternde Stille

Die Erzählung schilderte weiter, wie die Gefangenen in der Kälte stehen mussten. Der Wind biss durch die dünnen Lumpen, die sie trugen. Wer umfiel, stand nicht wieder auf. Manche klammerten sich aneinander, um nicht umzukippen. Ein Junge, kaum zwölf Jahre alt, verlor das Gleichgewicht. „Steh auf!“, brüllte ein SS-Mann. Doch der Junge rührte sich nicht mehr. Ein einzelner Schuss hallte durch die eiskalte Luft.

Nach der Lesung sprach Darchinger über die Bedeutung von Verantwortung. Demokratie könne verschwinden, wenn man nicht aufpasse, betonte er. „Es ist eine Illusion zu glauben, unpolitisch sein zu können. Wer schweigt, entscheidet trotzdem, nur eben für andere.“ In der anschließenden Diskussion zeigte sich, wie unterschiedlich die Schülerinnen und Schüler auf das Gehörte reagierten. Samuel Adam wirkte nachdenklich: „Ich dachte, es geht eher nur um den Krieg, aber es hatte viel mit Demokratie zu tun.“ Johanna Kloppe war sichtlich bewegt: „Ich war irritiert, was mit den Menschen passiert ist. Es ist eine wahre Geschichte. Das muss man sich erst mal vorstellen.“ Melina Dietrich erklärte, dass sie sich bisher nicht intensiv mit dem Thema befasst habe: „Ich fand es krass, die Details so zu hören. Das hat mich sehr berührt.“

Schüler Robert Otto hatte bereits zuvor viel über den Zweiten Weltkrieg gelernt: „Es war nicht komplett neu für mich, aber die Erzählung hat mir gezeigt, wie unfassbar schlimm es wirklich war.“ Tom Leisner hob die Bedeutung der Demokratie hervor: „Ich habe gelernt, wie stark die Menschen gelitten haben und dass wir verhindern müssen, dass so etwas noch einmal passiert.“ Schulleiterin Ricarda Kießling zeigte sich überzeugt, dass die Veranstaltung nachwirken werde. „Diese Generation ist die Zukunft. Sie muss verstehen, dass Demokratie und Freiheit keine Selbstverständlichkeit sind. Ich hoffe, dass die Juniorwahlen ein erster Schritt sind, sich aktiv mit Verantwortung auseinanderzusetzen.“

Blick in den Abgrund

Schulverwaltungsassistentin Daniela Büttner war von der Veranstaltung tief bewegt. „Diese Lesung ging unter die Haut. Die Bilder und Worte bleiben im Kopf und machen deutlich, wie wichtig es ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.“

Auch Schauspieler Johann Jaster sprach im Anschluss über die Wirkung der Lesung. „Je öfter ich diesen Text lese, desto mehr spüre ich die Last dieser Geschichte. Es gibt Momente, in denen ich mich beim Lesen frage: Wie kann ein Mensch so etwas tun? Und dann erinnere ich mich daran, dass die Täter auch einmal Kinder waren, genau wie die hier im Raum. Was lässt einen Menschen so grausam werden?“ Darchinger erklärte, dass er oft noch Jahre später Rückmeldungen von Schülern bekomme, die berichteten, dass diese eine Stunde ihr Denken verändert habe. „Geschichte ist nichts Abstraktes. Sie lebt weiter in den Entscheidungen, die wir heute treffen.“ Die Veranstaltung endete mit einer Schweigeminute. Niemand sprach ein Wort. Es war ein Moment, in dem die Vergangenheit nicht fern wirkte, sondern erschreckend nah, darüber waren sich viele einig.

Johann Jaster liest die schmerzlichen Erinnerungen von Solly Ganor.
Johann Jaster liest die schmerzlichen Erinnerungen von Solly Ganor.
Thomas Schmidt